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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Menschen zu sehen, den ich für meinesgleichen erachten könnte. Die Lehre von der unsichtbaren Kirche ist auch nicht blos ein letzter Trost derer, die an der ganzen sichtbaren Kirche irre geworden sind, nicht blos der letzte Rettungsanker für diejenigen, die unter täglichen Enttäuschungen und immer neuen Erfahrungen des Bösen, doch auch gerne noch den Glauben an eine heilige Menschheit auf Erden festhalten wollen. Wollten wir so von einer unsichtbaren Kirche reden, so würden wir in der That auf eine unapostolische Weise die Lehre gebrauchen, welche an und für sich richtig und wahr ist. Nicht mit dem Mistrauen eines Menschen, der rings um sich her möglicher Weise nur Heuchler sieht, sondern im Gegenteil mit jener brüderlichen Liebe, welche durch den wahren Glauben in das Herz des Menschen ausgegoßen ist, mit der Liebe, die alles hofft, sieht ein rechter Christ die Gemeinde um sich her an. Alle diejenigen, die er möglicherweise für gerechtfertigt halten kann, sind ihm Brüder, und er hält sie so lange dafür und behandelt sie als solche so lange, als nicht das Gegenteil sonnenklar vorliegt. Ein frommer Christ sieht also seine Glaubensgenoßen, die nicht in der Zucht stehen oder excommunicirt sind, als gerechtfertigte Kinder Gottes an, als seine Brüder, mit denen er eins ist im innersten Grunde der Seele. So haben die heiligen Apostel ihre Gemeinden trotz aller vorhandenen und gerügten Fehler angesehen und behandelt, und dieselbige Betrachtungsweise müßen auch wir auf die gegenwärtigen Gemeinden anwenden, so viel es nur immer deren zuchtloser und der Wahrheit ungetreuer allgemeiner Charakter gestatten wird. Die möglichst weite Ausdehnung unsers brüderlichen Vertrauens rechtfertigt sich vor dem HErrn selber durch das achte Gebot Seines Mundes. So gibt es also auch für unser irdisches Leben eine Kirche, welcher wir mit aller Liebe und in großem Frieden zugethan sind. Wir erkennen uns mit derselbigen als ein Leib, dieweil wir alle zu einem Leibe getauft und, wie wir in unserm Texte lesen, allzumal Einer sind in Christo JEsu. Unsre Einigkeit mit ihr gründet sich auf unser gemeinsames Ruhen in den Wunden JEsu, auf dieselbe Taufe und dasselbe Taufkleid und Kleid der Gerechtigkeit, welches wir alle vor Gott und vor den Menschen tragen.

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 Vor dieser Einigkeit treten alle Verschiedenheiten zurück. Was für ein Unterschied zwischen einem Juden und Griechen, einem Israeliten und einem Heiden! Aber wenn alle beide durch dieselbe Taufe eine und dieselbe Rechtfertigung erlangten, alle beide Christi Eigentum geworden sind, so weicht vor dem Glanze der Einigkeit die gewaltige Verschiedenheit zurück, die Trennung fällt hin, und auch ein Jude, der für seine Volksvorzüge wie Paulus begeistert ist, erkennt doch den Christ gewordenen Heiden für seinesgleichen, für ein Glied am Leibe Christi an, und ruft ihm zu: „Bist Du Christi, so bist Du auch Abrahams Saame und nach der Verheißung ein Erbe.“ Eben so ist es mit anderen großen Unterschieden unter den Menschen. Kann auch etwas jammervoller sein, als der Unterschied zwischen dem Freien und dem Sklaven. Man kann den Unterschied im irdischen Leben achten, wie St. Paulus im Brief an Philemon; man kann im Sklaven das Eigentum seines irdischen Herrn und Besitzers erkennen und trotz aller Uebel der alten und neuen Sklaverei sich doch nicht für berechtigt halten, andere Sklaven frei zu laßen, als die eignen. Aber ist nicht dennoch die Lage des Sklaven eine erschreckliche, und die Sklaverei selbst eine der bittersten Früchte der Sünde? Und wenn man auf Grund der heiligen Schrift nicht Macht und Befugnis findet, das Uebel geradezu mit der Wurzel auszurotten; soll man nicht doch mit allem treuen Fleiße dahin trachten, daß allmählich diese Schande der Menschheit und dieser Hohn der hohen Lehre von einer und derselbigen Abstammung aller Menschen hinweg gethan werde? Wenn es aber so ist, wenn man das sollte, was wird man denn für Mittel und Wege zum Ziele einzuschlagen haben? Leichte Antwort: Bekehre den Herrn und seine Sklaven zu Christo JEsu, so wird sich alles ändern, und wenn auch nicht mit einmal das ganze Verhältnis dahinsinkt, so wird es doch eine ganz andre Gestalt, ja ich möchte sagen, ein ganz andres Wesen annehmen. Der Sklave wird mit seinem Herrn zur Taufe, zu Gottes Tisch gehen und der Diener Gottes am Altare wird ihnen zurufen: „Da ist kein Sklave und kein Freier, ihr seid beide einer in Christo JEsu.“ Die siegreiche, einigende Macht des gleichen Himmelsweges wird die irdischen Unterschiede so verklären, daß Gott dadurch mehr gepriesen wird, als wenn sie nie bestanden hätten. – Ja der Apostel führt noch ein Beispiel an, welches wo möglich noch stärker ist, als die

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 068. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/75&oldid=- (Version vom 1.8.2018)