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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

zwei erst genannten: „Da ist kein Mann und kein Weib,“ ruft er, „ihr seid allzumal einer in Christo.“ Was für ein Unterschied ist zwischen einem Manne und einem Weibe nach Leib und Seele; sie sind verschiedener unter einander, als die Völker und Racen. Und doch wird durch den einen Glauben und den Anteil, welchen beide an derselben Rechtfertigung haben, der gewaltige Unterschied zur lieblichsten Mannigfaltigkeit, und es baut sich der geistige Leib und Tempel JEsu Christi aus männlichen und weiblichen Gliedern zur harmonischesten Einheit auf. Da kommt das Weib zu Ehren, das früher wie eine Sklavin von Natur geachtet wurde, da steigt es an sittlichem und geistlichem Werthe, und der Mann neigt sich zu ihr, zu der gleich Weisen, Seligen und Heiligen, mit einer Achtung, von welcher die Heiden nichts zu sagen wißen. – Welch stärkere Beispiele hätte der Apostel wählen können, um die Einheit und Vereinigung des Volkes Gottes auf Erden anzuzeigen. Der Jude traut dem Heiden, der Herr dem Sklaven, der Sklave dem Herrn, und Männer und Weiber sind einig, weil sie sich alle für gleich verloren durch die Sünde, aber auch für eines Vaters ewig selige Kinder durch die Rechtfertigung erkennen. Hierin, meine lieben Brüder, sehe ich beides, das höchste Zeichen der Mündigkeit und den Triumph der sichtbaren Kirche. Gott rechtfertigt alle Tage durch Taufe, Absolution und Abendmahl, macht alle gleich durch das Verdammungsurteil ihrer Sünde, aber auch durch den Freispruch der Gnade. Da geht das Gotteskind mit allen Gerechtfertigten dieselbe Straße. Es sieht den Unterschied der Nationen und Stände und Geschlechter, aber er ist ihm kein Hindernis mehr. Gott rechtfertigt, so rechtfertigt er auch, spricht frei und ehrlich, kann achten und lieben, und wandelt also nicht allein selber in der Freiheit, sondern sieht auch andre mit Freuden in derselben gehen. Ein unvollkommnes Volk hält sich also zusammen im Bekenntnis der Gnade und göttlichen Rechtfertigung. Sie wißen es, daß trotz aller treuen Zucht und Vermahnung Heuchler und Maulchristen unter ihnen sind und sein werden; aber das ängstigt sie nicht; nicht das Mistrauen, das Vertrauen beherrscht dies Volk, welches durch Glauben und Vertrauen selig wird, sie erkennen einander auf dem gleichen Grunde der Rechtfertigung an und bilden miteinander eine heilige christliche Kirche, weil sie mit einander im Genuße derselben Gnade stehen, und in die Herrlichkeit desselben Christus eingehüllt sind.

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 Brüder, es ist eine Vorsehung Gottes, daß wir Deutsche, andre aber Franzosen, Spanier, Italiener sind, nicht ohne den Willen Gottes gibt es verschiedene Nationen, der HErr hat die Sprachen verwirrt und die Nationen geschieden. Auch hat Er einer jeden Nation ihr besonderes gegeben, es zu hegen und zu pflegen, und es werden sich diese Verschiedenheiten an Art und Gabe ohne Zweifel geltend machen bis in’s Heiligtum hinein, so daß man in Anbetracht derselben mit einem gewissen Rechte von einer deutschen Kirche und andern Nationalkirchen sprechen kann. Aber im eigentlichen Sinne kann man von Nationalkirchen nicht sprechen. Wo überall das Wort Gottes lauter und rein gepredigt, und die Sakramente nach der Einsetzung JEsu Christi verwaltet werden, da entsteht ein heiliges Volk, eine Kirche, Glieder desselben Leibes, Teilhaber desselben Geistes, eine selige Gemeinschaft, deren Zusammengehörigkeit weit größer und wichtiger ist, als der Unterschied der Nationen. Als sich die Menschheit in Babel zu einer gottlosen Schaar vereinigen wollte, hinderte der HErr vom Himmel die heillose Einigkeit durch die weit erträglichere Verschiedenheit und machte verschiedene Sprachen und Nationen. Was Er aber dem Satan nimmermehr will gelingen laßen, nemlich die Menschheit zu einigen, das erstrebt und erreicht Er selber durch die rechtfertigende Gnade im Bau Seiner heiligen Kirche und bringt aus allen Völkern und Sprachen und Zungen eine Heerde zu dem einen Hirten. Einen lieblichern und größern Gedanken hat uns Gott nicht geoffenbart, als diesen, der von der Welt her verborgen und dem Satan entrückt, uns aber als ein von der Welt her verborgenes Geheimnis durch Seine heiligen Apostel und Propheten geoffenbart ist. Diesen heiligen großen Gedanken erkenne man an und laße die Menschheit durch die Erkenntnis Einer Kirche in ihre Freiheit gehen. So lange man im neuen Testamente das Evangelium an Nationalitäten binden will, sei’s auch die Deutsche, hängt man doch nur wieder an den Elementen der Welt und baut die Zäune auf, die vor dem Wirken des heiligen Geistes sinken sollen, hält auch die Mannigfaltigkeit der Gaben und Kräfte auf, durch die Vereinigung mit der heiligen

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 069. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/76&oldid=- (Version vom 1.8.2018)