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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am ersten Sonntage des Advents.

Röm. 13, 11–14.
11. Und weil wir solches wißen, nämlich die Zeit, daß die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, sintemal unser Heil jetzt näher ist, denn da wirs glaubten; 12. Die Nacht ist vergangen, der Tag aber herbei kommen: so laßet uns ablegen die Werk der Finsternis, und anlegen die Waffen des Lichts. 13. Laßet uns ehrbarlich wandeln, als am Tage, nicht in Freßen und Saufen, nicht in Kammern und Unzucht, nicht in Hader und Neid: 14. Sondern ziehet an den HErrn JEsum Christ, und wartet des Leibes, doch also, daß er nicht geil werde.

 MAncherlei Jahre hatte man früher, meine lieben Brüder, mancherlei Jahre haben wir auch jetzt noch. Die Juden hatten und kannten von Alters her ein gemeines Jahr, welches im Herbste den Anfang nahm; sie hatten dann aber auch seit dem Auszug aus Aegyptenland ein heiliges Jahr, welches im Frühling begann. Wir haben ein gemeines Jahr, nach dem wir alle Dinge des gewöhnlichen Lebens bemeßen: es beginnt, wie wir Alle wißen, am 1. Januar; für die Geschäfte unsres Staates gibt es gleichfalls ein besondres Jahr, welches vom 1. Oktober ausgeht; und die christliche Kirche hat für ihre gottesdienstlichen Geschäfte und Uebungen, für ihr gesammtes geistliches Leben auch ihr besonderes Jahr, welches vier Sonntage vor Weihnachten, also je nachdem dies hohe Fest auf einen Wochentag fällt, am Sonntag vor oder nach dem Gedächtnistage des heil. Apostels Andreas den Anfang nimmt. So haben wir mancherlei Jahre und leben unsre Zeit nach Abschnitten dahin. Man könnte wol sagen, es bedürfe der Abschnitte nicht, zumal, wenn sie willkürlich gemacht werden, und der Mensch werde mit dem Leben ebensowol fertig, wenn er in den Tag hinein lebe und keines Abschnitts achte; allein das könnte man doch nicht anders, als eine rohe Ansicht von unsrem Leben nennen. Es ist ein tiefes Bedürfnis der Seele, das Leben nicht als eine abschnittlose Reihe des Daseins anzusehen, sondern von einem Abschnitt zu dem andern zu leben, von einem auf den andern rückwärts und vorwärts zu schauen und zu rechnen, und ob wirs versuchen wollten, wir würden es bald für unmöglich und unerträglich erachten, unsre inneren und äußeren, zeitlichen und ewigen Geschäfte ohne Rücksicht auf das Maß unsrer Zeit, auf Tage und Wochen und Monden und Jahre zu vollbringen. Wir bedürfen den Wechsel der Zeit, im Wechsel werden und reifen wir für Zeit und Ewigkeit, und selbst unsre Ewigkeit wird nichts andres sein, als ein ungetrübter, freudenreicher Wechsel einer unendlichen Zeit. Das liegt schon in der Schöpfung: der HErr schuf die Tage und Alles nach Tagen, Er selbst stiftete an Seinem ersten Sabbath die heilige siebentägige Woche; Er setzte Sonne, Mond und Sterne an den Himmel, zu geben Zeiten und Zeichen und Tage und Monden und Jahre, und es kann daher niemand die Abschnitte unsrer Zeit verachten, ohne die Schöpfung der Zeit zu verachten, und den allerheiligsten Schöpfer zu beleidigen. Wolan denn, freuen wir uns eines jeden Tages, einer jeden Woche, jedes Monats, jedes Jahres und treten wir auch heute mit bedachtsamer ernster hoffnungsvoller Freude in das Kirchenjahr ein, dessen Ankunft wir seit dem gestrigen Abend begrüßen. Es beginnt ein neues Jahr der Feier und des Andenkens der großen Thaten Gottes in Christo JEsu, ein neues Jahr der Lektionen,

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 001. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/8&oldid=- (Version vom 1.8.2018)