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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Sein rechter Arm ruhe, ob Seine Hilfe fehle: wenn Er nur da ist; wenn nur die Zeichen Seiner Gegenwart vorhanden sind! − Er schläft, Er hilft nicht; aber siehst du nicht Seinen Leib, − und erkennst du nicht, wie am Leibe, so an Seinen Sacramenten, an Seinem Leib und Blute Seine Gegenwart? Er schläft − aber geht nicht von Seinen Lippen der Hauch Seines Mundes in tiefem Frieden, − und vernimmst du nicht zum Beweis, daß Er vorhanden, Sein süßes Evangelium? nicht das Wort von Seinem Tod und Auferstehen, damit Er dir für alles gut steht im Leben und Sterben? So lange der Hauch Seines Mundes unter uns wehet, Sein Leib und Blut bei uns bleibet, hat es keine Noth und wir können an das Bette Seiner Ruhe uns setzen, Seine Ruhe bewundern, sie zum Pfande unserer Sicherheit nehmen und über dem Schlafenden singen: „Wenn ich nur Dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde! wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtete; so bist Du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Theil!“ (Ps. 73.) „Ich werde Dir noch danken, daß Du meines Angesichts Hilfe und mein Gott bist.“

 Und ob dein Glaube zu klein ist zu solchem Gesang, so bete, denn kleingläubig können die Jünger im Schiffe wohl werden, aber nicht ungläubig; wer ungläubig ist, ist nicht im Schiff, und wer es wird, leidet Schiffbruch. Willst du also kleingläubig sein, so sei es zum mindesten wie die Jünger auf dem See von Genezareth, sei es also, daß du betest. Es sind im Schiffe, in der Kirche Christi allezeit mancherlei Gläubige: etliche weinen und klagen, etliche beten und flehen, etliche danken, etliche loben, etliche liegen in stummer, seliger Anbetung vor Dem, der schläft und dem kein Sturm der Hölle die Ruhe stört. Keiner, der auf geringerer Stufe steht, heuchelt sich höher; keiner, der stärker ist, hält es für Demuth, nicht zu sein, wie und was ihm Gott verliehen. Der Weinende eifert dem Anbetenden nach, sehnt sich neidlos nach seiner Ruhe; der Anbetende erkennt den Weinenden für seinen Bruder. Sie hangen alle an Einem HErrn und warten auf Ihn alle, − und wie im Gotteshaus die Orgeltöne von der Tiefe zu der Höhe harmonisch steigen und wieder nieder, so wird einer jeden Glaubensstufe in der Gemeine Gottes der Trost gelaßen, ihr Herz, so wie es ist, laut werden zu laßen und auszuschütten vor Gott. Nie fehlt ganz die Stille der Anbetung, nie ganz der Lobgesang, der Dankpsalm, nie Seufzer und Thräne, − und nie, bevor das Schiff zum Hafen gelangt, wird auf ihm der Hilferuf und das sehnliche „Kyrie, eleison,“ „HErr erbarme Dich“ verhallen. Es wird nicht und es soll nicht − und die Abwechselung großen und kleinen Glaubens wird nicht bloß in derselben Gemeinde, sondern zu verschiedener Zeit, ja selbst zu einer und derselben Zeit in einem und demselben Herzen sich finden. Denn so sind wir, bald sind wir guten Muthes, dann singen wir Psalmen; bald leiden wir, dann beten wir (Jacob. 5.); − und oft, o wunderbares Wesen! liegt uns beides hart an und es fließt neben der Wonnethräne des Dankes die Thräne der Angst, die um Erlösung weint. −

 Sieh ins Schifflein auf dem See Genezareth! Wie fleht und jammert es um den Fürsten der Ruhe her! Und unter dem Flehen und Jammern erwacht Er, um die erbetene Hilfe zu gewähren. Aber bemerke, was Zeichen Seines Erwachens und Vorbote Seiner Hilfe ist: es ist Sein strafendes, Erkenntnis der Sünde wirkendes, Buße verleihendes Wort: „Ihr Kleingläubigen, wie seid ihr so furchtsam!“ − Wenn die Kirche um Hilfe schreit, predigt Er Buße: und diese Predigt sammt der Buße, die ihr folgt, sind gewisse Zeichen davon, daß sich der HErr aufgemacht hat, zu helfen. Klage über Unglück, Jammer um Erbarmung − sind ferner von der Hilfe, als die Bußpredigt, welche fremde, und das Beichtbekenntnis, welches eigene Sünden anklagt. Die Thräne der Buße ist reiner und feuriger und mächtiger bei Gott als die Thräne, die um Hilfe weint, und das Gebet um Gnade bringt mehr Heil, als der Schrei um Erbarmung. Elend sind alle Menschen und die Noth lehrt viele beten; wenn aber eine Errettung kommen und groß Hell aufgehen soll, so wird der HErr dazu bewogen durch den Thau, der vom Auge schmerzenreicher Bekenner ihrer Sünden auf die Erde fällt. Ach, daß wir das begriffen und nie vergäßen: Christi Kirche bekommt vor der Hilfe die Bußpredigt − der HErr sendet vor Sich selbst her immer die Stimme des Engels, der uns zur Buße ruft; Bußpredigt und Buße will Er Seinem Volke niemals fehlen laßen.

 Aber wahrlich, auch die Hilfe fehlt dem Schifflein Christi nie! Von dem Worte, das der Kirche Buße predigt, wendet Er Sich zu dem strengen Befehl, der dem Jammer wehrt und die Hilfe bringt. „Schweig

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 091. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/102&oldid=- (Version vom 28.8.2016)