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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Aernte.“ Denn es liegt in den Worten ein Trost. Der HErr sagt ja nicht: „Laßet den Waizen bis zur Aernte von dem Unkraut gehindert und im Wachsen aufgehalten, oder gar ertödet werden,“ sondern: „Laßet beides miteinander wachsen!“ Also wird der Waizen durch das Unkraut doch nicht überwältigt, nicht getödet, sondern er kann mit dem Unkraut wachsen, fortwachsen, er stirbt nicht aus, sondern was der Menschensohn gesäet hat, bleibt. „Alle Pflanzen, die Mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, werden ausgereutet werden,“ spricht der HErr − aber Seinem Waizen spricht Er Leben und Gedeihen mitten unter schwerem Unglück zu. − Und man könnte nun, vom Gleichnis ein wenig ablenkend, aber dennoch den Hauptgedanken desselben im Auge, fortfahren und sagen: Es blieben in Canaan Philister übrig, nachdem das Land von den Kindern Israel eingenommen war, so daß die Einwohnerschaft des Landes als ein Gemisch erschien, wie man es auf dem Acker der Welt sieht. Warum hat der HErr das zugegeben? Damit Sein Israel eine kräftige Ursache zur Wachsamkeit hätte und nie vergäße, daß einst andere Völker im Lande wohnten, daß es den Sieg über diese nur durch Gnade gewonnen, daß ihm, wenn es den Völkern gleich würde an Bosheit, dasselbe Loos bestimmt werden könnte; damit es gegen Gott dankbar, gegen die Völker streitbar bliebe und sein Verlangen nach vollkommener Freiheit desto größer würde. So bleiben allenthalben auf dem Plan der Welt die Frommen unter Bösen, damit auch sie lernen, wie ganz von Gottes Gnaden sie leben und gedeihen, damit sie nicht vergeßen, wie häßlich das Böse ist, sondern gegen dasselbe streiten, Gott fröhlich für Seine gnädige Unterstützung danken und allezeit wachen und beten um das Ende der mühseligen Zeit, um den Anfang der ewigen Herrlichkeit. Es dient also den Frommen der Aufenthalt im Haufen der Bösen zur Vollendung, − den Gottlosen aber wird durch Hinausschiebung des Gerichtes Frist gegeben und heilsame Schonung bewiesen. Der Geist des HErrn geht im Wort aus in alle Lande und beruft und lädt und nöthigt die Menschen und wandelt sie, so viele ihrer versehen sind, um zu Kindern Gottes, mehrt den Waizen aus dem Unkraut und beweist so an den Bösen, wie auch an den Frommen, was St. Petrus sagt, daß „die Geduld des HErrn unsre Seligkeit ist“.

 Jedoch sind diese Gründe nicht in allen Fällen hinlänglich uns zu trösten. Es wird doch viel Waizen unterdrückt durch das dichte Unkraut, welches sich umher drängt, − und der Sieg des Bösen ist oft, wie bereits bemerkt, zu himmelschreiend, als daß man viel hoffen könnte. Das Reich wird gewaltig gehindert, die Kräfte und Wirkungen der Gnadenmittel zurückgestoßen, hie und da erhebt sich freches Unkraut, das jeder umwandelnden Kraft des Gotteswortes trotzt, und es gibt sich zuweilen das Böse mit einer solchen Härtigkeit kund, daß man die gütigen Kräfte des göttlichen Wortes, die segnen wollten, in Fluch verkehrt sieht. Es fallen Fromme durch Verführer in Sünden und die Hölle jauchzt, − es werden Leuchter umgestoßen, Gemeinden des HErrn in Belialsrotten verwandelt, statt Buße und Beßerung kommt Verhärtung, statt Bewährung Abfall − und die Geduld des HErrn scheint umsonst. Da bedarf es dann einer andern Antwort, wenn man sich zufrieden geben soll, − und die sollen wir nun vernehmen.

 Als die Knechte im Gleichnis die Unkrautsaat gewahr wurden, welche sie ihrem HErrn nicht zutrauen konnten, traten sie zu ihm und sprachen: „HErr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesäet, woher hat er denn das Unkraut?“ Er sprach zu ihnen: „Das hat der Feind gethan.“ Da sprachen die Knechte: „Willst du denn, daß wir hingehen und es ausgäten?“ Er sprach: „Nein, auf daß ihr nicht zugleich den Waizen mitausraufet, so ihr das Unkraut ausgätet. Laßet beides mit einander wachsen bis zur Aernte.“ − Wenden wir das an, wie es angewendet werden soll, so liegt darin nicht bloß ein Gedanke, sondern zwei. Der eine Gedanke ist: „Ihr sollt das Unkraut nicht ausgäten.“ Der zweite ist: „Auch ich selbst will es nicht ausgäten bis zu der Aernte Zeit“; denn indem den Knechten befohlen wird, es bis zur Zeit der Aernte stehen zu laßen, ist zugleich angezeigt, daß vor der Aernte überhaupt keine Vertilgung des Unkrauts Statt haben soll.

 Hiemit ist den Knechten die einfache Warnung gegeben, den Gerichten des HErrn vorgreifen zu wollen, und ausgesprochen, daß auch der HErr weder mittelbar noch unmittelbar eingreifen wolle vor der Zeit. Er verweist also alle über den Mischlingszustand der Welt Angefochtenen auf den ergebungsvollen Glauben an Sein Thun und spricht ihnen mit deutlichem Ausdruck Seinen vielleicht manchem unwillkommenen, aber

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 096. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/107&oldid=- (Version vom 28.8.2016)