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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

höreten, fielen sie auf ihr Angesicht, und erschracken sehr. 7. JEsus aber trat zu ihnen, rührete sie an und sprach: Stehet auf und fürchtet euch nicht! 8. Da sie aber ihre Augen aufhuben, sahen sie niemand denn JEsum allein. 9. Und da sie vom Berge herab giengen, gebot ihnen JEsus und sprach: Ihr sollt dieß Gesicht niemand sagen, bis des Menschen Sohn von den Todten auferstanden ist!


 EIne der wunderbarsten Begebenheiten aus dem Leben unsers HErrn haben wir hiemit vernommen. Sie steht mit Recht auf der Gränze der Epiphanien- und Passionszeit; denn eine Epiphanie, eine Erscheinung und Offenbarung des HErrn ohne Gleichen und eine Ankündigung des Leidens und Ausgangs JEsu, wie wir sie auch sonst nirgends lesen, finden wir hier beisammen. Laßt uns, geliebte Brüder, zuerst der Geschichte Schritt für Schritt folgen und es für Gewinn achten, sie wohl zu faßen.

 Am Abend gieng unser HErr oftmals auf hohe Berge, um in der tiefen, ungestörten Stille eines solchen Aufenthalts zu beten. So wars auch dieß Mal. Denn Abend war es, da Er den heiligen Berg bestieg; das verräth uns nicht allein die ganze Gestalt der Geschichte, welche wir lesen, sondern auch bei St. Lucas 9, 32. die ausdrückliche Erwähnung des tiefen Schlafes, aus welchem Petrus und die beiden anderen Begleiter JEsu durch das himmlische Gesicht geweckt wurden. Tiefer Schlaf befällt wachsame Männer am hellen Tage nicht, am wenigsten in Gesellschaft, die man scheut und liebt. − Der hohe Berg, auf welchem die Geschichte geschah, die wir betrachten, lag in Galiläa; denn dort hielt Sich der HErr zu jener Zeit auf. Vielleicht war es der Berg Tabor, denn auf ihn deutet nicht allein fast das gesammte Altertum, sondern der Gipfel desselben scheint auch durch seine ganze natürliche Beschaffenheit vor allen andern Bergeshöhen Galiläas würdig gewesen zu sein, zum Schauplatz der Herrlichkeit Gottes zu dienen. − Als der HErr am Abend den heiligen Berg bestieg, that Er, wie auch in andern Fällen, wo es Dinge von besonderer Wichtigkeit wahrzunehmen und zu erfahren gab: Er nahm nicht alle Seine Jünger mit Sich, sondern nur eine Auswahl aus denselben. Auch unter den Zwölfen scheint ein Unterschied gewesen zu sein: nicht alle scheinen auf gleicher Stufe des inwendigen Lebens gestanden und gleich befähigt gewesen zu sein, die Geheimnisse des Himmelreichs aufzunehmen und zu bewahren. Die drei, welche den HErrn zu Seiner Verklärung begleiteten, scheinen den nächsten Kreis um JEsum Christum gebildet und ihre neun Mitjünger an Reife des inwendigen Lebens und Wesens überragt zu haben; denn wir finden sie nicht bloß hier, sondern öfters als JEsu auserwählte Begleitung. Mit diesen treuen Zeugen bestieg der HErr den heiligen Berg, und während sie entschlummerten, betete Er, wie St. Lukas ausdrücklich erwähnt. Wir wißen nicht, ob Er um die Offenbarung Seiner Herrlichkeit betete, die sofort geschah; aber das wißen wir, daß diese Offenbarung unter Seinem Gebete begann; denn auch das schreibt St. Lukas. Die Seele des Menschensohnes, ihr Dichten und Beten ist unserm betrachtenden Geiste zu wunderlich und zu hoch; aber himmlische Offenbarungen werden gern betenden Seelen gegeben, wie wir das an so manchen Beispielen der heiligen Schrift finden und auch hier an der betenden Seele des Erlösers offenbar wird. Wie mag der HErr gebetet haben! Werde ich irren, wenn ich von der Herrlichkeit der Verklärung einen Schluß auf die heilige Inbrunst des Gebetes JEsu mache? − „Da Er betete, sagt St. Lukas, wurde die Gestalt Seines Angesichts anders.“ „Er ward verklärt vor Seinen Jüngern, und Sein Angesicht leuchtete wie die Sonne,“ sagt St. Matthäus. Es war kein von außen her kommender Schein, von dem Er glänzte, sondern aus Ihm selbst hervor brach das Licht, von dem Er wie die Sonne leuchtete. Und dieß Licht verhüllte Sein Antlitz nicht so sehr, daß nicht die Jünger, als sie Gottes Hand vom Schlaf erweckte, deutlich bemerkt hätten, Seine Züge seien anders geworden, herrlicher, ehrfurchtgebietender und ohne Zweifel auch mächtiger anziehend, als wenn sie an Seiner Knechtsgestalt wahrgenommen wurden. Es war kein anderer, den sie sahen, Er war es Selbst, aber Seines Angesichts Gestalt war doch so anders und so hehr, und Sein Leuchten war so himmlisch! Was mag das in der stillen Nacht für ein Anblick gewesen sein! Die Ihn hatten, konnten wohl hernachmals sprechen: „Wir sahen Seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater.“ − Wir lesen wohl auch von Mose, daß die Haut seines Angesichts glänzte, als er vom Sinai kam; aber was konnte Mosis Klarheit gegen die Klarheit JEsu

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/111&oldid=- (Version vom 28.8.2016)