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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am ersten Sonntage des Advents.

Evang. Matth. 21, 1–9.
1. Da sie nun nahe bei Jerusalem kamen gen Bethphage an den Oelberg, sandte JEsus seiner Jünger zween, 2. und sprach zu ihnen: Gehet hin in den Flecken, der vor euch liegt, und bald werdet ihr eine Eselin finden angebunden und ein Füllen bei ihr; löset sie auf und führet sie zu mir. 3. Und so euch Jemand etwas wird sagen, so sprechet: Der HErr bedarf ihrer! sobald wird er sie euch laßen. 4. Das geschah aber alles, auf daß erfüllet würde, das gesagt ist durch den Propheten, der da spricht: 5. Saget der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmüthig, und reitet auf einem Esel, und auf einem Füllen der lastbaren Eselin. 6. Die Jünger giengen hin, und thaten, wie ihnen JEsus befohlen hatte, 7. und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf und setzten ihn darauf. 8. Aber viel Volks breitete die Kleider auf den Weg; die andern hieben Zweige von den Bäumen, und streuten sie auf den Weg. 9. Das Volk aber, das vorgieng und nachfolgte, schrie und sprach: Hosianna dem Sohne David! Gelobet sei, der da kommt in dem Namen des HErrn! Hosianna in der Höhe.

 ES ist in der heiligen Erzählung, welche wir so eben gelesen haben, etwas Besonderes und Außerordentliches, wir mögen nun das Benehmen des HErrn oder Seiner Jünger oder der Juden ins Auge faßen.

 Der HErr suchte während der Zeit Seiner Erniedrigung gerne Verborgenheit; oft verbot Er denen, an welchen Er Wunder gethan hatte, die lauten Dankbezeigungen und die Ausbreitung Seines Ruhmes, und wenn Ihm die Menschen willig die Ihm gebührenden Ehren entgegenbrachten, pflegte Er Sich ihren Augen und Händen nicht weniger zu entziehen, als wenn sie Ihn steinigen und tödten wollten. Hier aber ist es anders: Er entzieht Sich nicht, Er verbietet nicht Seinen Ruhm und Preis, vielmehr sucht Er einigen Glanz, verschafft Sich selbst das Eselsfüllen, auf welchem Er einreiten will, und begibt sich geflißentlich unter die feiernde, jubelnde Menge.

 Was die Jünger anlangt, so waren sie zwar allezeit bereit, ihren Meister zu ehren; sie hätten Ihn, da Er Davids Sohn war, gerne auf dem Throne Davids gesehen, und es mag ihnen zuweilen Seine Liebe zur stillen Verborgenheit ein wenig anstößig gewesen sein. Vielleicht war ihnen nichts angenehmer, als dieser Tag des Einzugs in Jerusalem, dieser Tag des Glanzes, an welchem ihre längst gehegten Hoffnungen in Erfüllung zu gehen schienen. Dennoch muß man sich über ihr Thun, wie es in unserm Texte dargestellt ist, hoch verwundern. Schon der Gehorsam ist außerordentlich, welchen sie dem Gebote des HErrn, die Eselin und ihr Füllen zu holen, geleistet haben. Da es eine fremde Eselin, ein fremdes Eselsfüllen war, so hätten sie nach pharisäischem Unglauben in diesem Gehorsam eine Uebertretung des siebenten Gebotes sehen können. Ihr Glaube wird auf die Probe gestellt, und sie bestehen die Probe. Noch außerordentlicher, ja wunderbar erscheint aber ihr übriges, ungeheißenes Thun; denn sie fahren fort in einem Tone und Geiste zu handeln, der ihnen gewis nicht natürlich und angeboren war. Kaum ist von des HErrn Lippen der erste Laut gekommen, der auf Seine Verherrlichung deutet, so findet alsbald ihre ahnungsreiche Seele ohne Belehrung, was ihr Herr und Meister vorhat, ihr ganzes Benehmen wird nun so, als gienge es zur ewigen Besitznahme des Thrones David.

 Und die Juden! Sie wollten zwar öfter den HErrn mit großen Ehren bekränzen, einmal ihn wirklich krönen; aber nun ist es doch ein ganz anderes.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 001. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/12&oldid=- (Version vom 14.8.2016)