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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

geht, daß für die Kirche keine Hoffnung da ist, jemals zu werden, was sie nie gewesen, nemlich die große Mehrzahl der Menschen? Es gibt zwar Stellen der heiligen Schrift, welche von einer großen Zahl der Kinder Gottes reden, ja St. Johannes sah ihrer eine unzählbare Menge aus allen Völkern und Heiden und Sprachen. Aber diese Stellen vergleichen nicht zwischen der Zahl der Seligen und Verfluchten, sie reden nur von der Zahl der Seligen an sich. Der Seligen ist allerdings eine große Zahl, aber gegen die Verfluchten gerechnet sind sie wenig. Und darum hat die evangelische Kirche gewis ein gutes Recht gehabt, aus der Minderzahl ihrer Glieder niemals einen Beweis ihrer Verwerflichkeit sich aufdringen zu laßen, niemals der römischen Kirche einen Vorzug bloß deswegen zuzuerkennen, weil sie so zahlreich ist. Die Zahl ists nicht, aus der man beweisen kann, sonst müßte sich das Urtheil über alle Dinge umkehren. Dann wären viele, wie berufen, so erwählt, der gute Weg wäre breit und das gute Land wäre das meiste. Laßen wir drum nur stehen und gelten, was der HErr gesprochen, daß die Kirche klein ist, daß nur wenige selig, nur wenige heilig und reich an Früchten werden. Das gehe uns warnend zu Herzen, und wirke in uns eine Ueberlegung und Prüfung unser selbst, ob wir gutes Land sind und Hoffnung haben, selig zu werden, ob wir fruchtbares Land sind und des HErrn Wohlgefallen mit uns ist.


 Was wir bisher vorgetragen und vernommen haben, haben wir aus einem der vielen Gleichnisse des HErrn gelernt. Für Seine ewigen, von keinem Auge entdeckten Wahrheiten entlehnt der HErr das Kleid von Dingen dieser Erde. Er lehrt uns damit, daß die irdischen Dinge göttlicher Gedanken voll, Träger himmlischer Wahrheiten sind, als solche angeschaut und betrachtet werden sollen. Die sichtbare Welt wird uns dadurch voll Bedeutung, ehrwürdig, lehrhaftig, eine Schule himmlischer Weisheit. Dennoch ist es der Mühe werth zu fragen, warum der HErr Sich dieser Form zu lehren so oft und gern bedient, warum Er nicht lieber gerade heraus geredet hat. Es gibt bei uns so viele Leute, welche es für ungeziemend, fast für kindisch halten, in Gleichnissen belehrt zu werden, und es wäre dies bei dem sonst gerne heitern, der Lust zugewandten Leben der Menschen unsrer Zeit gar nicht zu begreifen, wenn sie sich nicht allewege als unkindlich erwiesen und darum auch den kindlich heitern Ernst des Gleichnisses verkennen müßten. Der HErr ist ganz anders gesinnt: Er liebt das Gleichnis. Wer von der Lieblichkeit Seiner Gleichnisse nicht angezogen wird, muß Seine Reden ungelesen laßen, damit er nicht an Ihm und der Gestalt Seiner Rede sich ärgere und versündige. Es ist aber auch gar nicht abzusehen, warum das Gleichnis für das Publikum dieser Tage ungeziemend sein soll, warum kindisch. Das Gleichnis, wie das Räthsel hat sein bescheidenes Maß von Anforderung an die geistige Kraft seiner Zuhörer. Die Gleichnisform der Rede verhüllt einigermaßen die Wahrheit; wer den Schlüßel nicht hat, den Vergleichungspunkt nicht kennt, merkt wohl, daß hier etwas verborgen sei, was aber, das wird ihm nicht so leicht deutlich, und es bleibt uns drum immer die Frage übrig: Warum redet der HErr so gerne in Gleichnissen? − Die Antwort wird so schwer nicht sein, liebe Brüder. Der Mensch, so wie er ist, ist kein Freund von Gesprächen über ewige und geistliche Dinge, sein Ohr ist für nichts ekeler, als für sie. Während er Stunden lang in Hitze, Kälte und unbequemer Lage Gesprächen über Dinge dieser Welt zuhört, fühlt er sich bei geistlicher Unterhaltung gleich anfangs gelangweilt, Schläfrigkeit und Schlaf befällt ihn oft unwiderstehlich, und wie wenig er sich dem Guten und Himmlischen verwandt fühlt, wie wenig er drüber fragen, forschen und sinnen mag, kann man doch an hundert Beispielen täglich sehen, auch wenn man selbst durch die Gnade Gottes eine Ausnahme macht. Es muß deswegen die erbarmende Liebe sich, gleich einer Mutter zum unverständigen Kinde, herunterlaßen und die himmlische Wahrheit mit irdischer Schöne bekleiden, auf daß sie reizend werde für den irdischen Sinn der verlorenen, irrenden Menschenkinder. Und gerade das geschieht im Gleichnis, welches seiner Natur nach die Wahrheit ein wenig verhüllt, indem es dieselbe versinnlicht, und gerade durch diese Verhüllung desto mehr zum Verständnis des Versinnlichten reizt und die menschliche Frage, das menschliche Forschen herausfordert. Wißbegier, Nachdenken ist beabsichtigt, und der Mensch soll vermocht werden, der Wahrheit nachzugehen, die er, wenn sie sich ihm unverhüllt offenbart, so oft ungegrüßt und unbeachtet vor sich vorübergehen läßt.

 Hätte nun der HErr in Gleichnissen geredet, ohne

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 117. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/128&oldid=- (Version vom 28.8.2016)