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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Schlüßel und Auslegung zu geben, so würde Er zwar die Begier erregt haben, Seine Wahrheit zu verstehen, aber würde auch dem Menschen, der seines Gottes deutliche Worte nicht schonet, sondern nach eigenen Einbildungen auslegt, Veranlaßung gegeben haben, seinen Witz und Eigensinn desto mehr am dunkeln Worte zu üben. Was hälfe aber ein buntes Durcheinander menschlicher Auslegungen, was auch das eifrigste Geschrei rechthaberischer Forscher, wenn es keine göttliche Entscheidung und keine Beruhigung der Gemüther durch die unfehlbare, eigene Auslegung JEsu Christi gäbe? Darum erregt der HErr nicht allein die Begier, sondern Er stillt sie auch: wir haben Seine Auslegungen zu Seinen Gleichnissen. Durch die liebliche Form des Gleichnisses öffnet Er das Ohr und durch die Auslegung wird alsdann der Mensch der Wahrheit doppelt froh. So zeigt sich also gerade die Gleichnisform der Reden JEsu als sehr heilsam; und doch ist es auch völlig wahr, wenn der HErr zu Seinen Jüngern spricht: „Euch ists gegeben, zu wißen das Geheimnis des Reiches Gottes, den andern aber in Gleichnissen, daß sie es nicht sehen, ob sie es schon sehen, und nicht verstehen, ob sie es schon hören.“ Die Jünger hören die Gleichnisse JEsu und das Volk hört sie auch; aber die Jünger bekommen die Geheimnisse des Himmelreichs zu wißen, weil sie darnach fragen, weil sie nicht zufrieden sind, durch die gehörten Gleichnisse zu einem kurzen, vergänglichen Bedenken geweckt worden zu sein, sondern zum Sinne der Reden durchzudringen begehren. Die andern sind auch angeregt, ihr Ohr ist zum Hören, ihr Auge zum Sehen geschärft. Aber man forscht und fragt nicht; man bedarf der Auslegung, des Kernes der Worte Christi nicht so sehr; man kanns vertragen, das geschärfte Aug und Ohr zurück ins gewohnte Treiben zu tragen und den Blick wieder stumpf und todt werden zu laßen. Was ist da zu sagen? Dein Gott setzt Sich an deinen Weg, an den eitlen Markt deines Lebens, singt und spielt dir, lockt und ladet dich ein mit tausend süßen Weisen − und Seine heimliche Weisheit geht dir in lieblichen Gestalten nach und öffnet ihre Pforten: Du aber ahnst und merkst nichts, willst und magst nichts davon merken, daß Gott dich mit Mutterlauten und Mutterhänden sucht? Du bist zu reich und groß und alt und weise für das alles? − „Solcher Verdammnis ist ganz recht“. In der That, das heißt sich selbst des ewigen Lebens verlustig machen und des HErrn herablaßende, wohlwollende Güte zu Schanden machen, so weit man das von einem Menschen sagen kann, − und den frommen Gott für Seiner Wahrheit heiliges Spiel unter den Menschenkindern mit Undank lohnen.


 Und nun, meine Freunde, erlaubet mir, die Anwendung von dem allem auf euch zumachen. Man kann die Wahrheit hören, man kann sie anerkennen, und, − sollte mans denken? − man kann dabei ganz leer ausgehen, gar keinen Segen davon haben, hungrig von der vollen Tafel aufstehen und ungewaschen vom Bade gehen, weil man keinen Gebrauch für sich selbst macht. Darum ist es eine Pflicht der Seelsorger und Prediger, nicht bloß Sinn und Meinung der Texte ihrem Volke näher zu bringen, sondern auch zu deren Anwendung und damit zum Segen und zum Genuß der himmlischen Kräfte anzuleiten, welche im Worte Gottes verborgen liegen. So laßt mich denn auch heute mein Amt unter euch thun und nehmet freundlich auf, was ich euch in Gottes Namen sage.

 Euch, meine Brüder, wird nicht bloß Gleichnis, sondern auch Auslegung gegeben. Beides wird euch nicht bloß vorgetragen, es wird euch nachgetragen. Ihr habt allewege mehr, als das jüdische Volk zu Christi Zeit. Was der HErr den Juden öffentlich, was Er den Jüngern heimlich sagte, das habt ihr alles. Der Juden Gleichnisse, der Jünger offenbare Weisheit, es steht euch alles zur Seite. Eure Augen werden sehend, eure Ohren hörend gemacht durch die Gleichnisse, eure Seelen können durch die Auslegungen befriedigt werden. Was für eine Verantwortung steht euch also bevor, wenn ihr der himmlischen Weisheit nicht achtet! Wenn die Juden verloren giengen, geschah ihnen nur ihr Recht; doppelt Recht geschieht euch, wenn ihr verloren geht. Das bedenket und davor hütet euch!

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 Es ist, meine Lieben, insbesondere heute das Gleichnis vom vierfachen Ackerwerk vor euren Ohren ausgelegt worden. Prüfet euch vor allem an diesem! Es ist wahr, es geht einem mit diesem Gleichnis leicht wie mit den leiblichen Krankheiten. Ein Mensch, der von den Krankheiten des menschlichen Leibes liest, ohne

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/129&oldid=- (Version vom 28.8.2016)