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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

den Leib, während die Wunder nur Wirkungen Gottes im Bereiche des zeitlichen Lebens sind. Die Erde wäre ein trostloses Jammerthal, wenn dieß Evangelium nicht wäre. Es gäbe ohne dasselbe auf Erden keinen Weg zum ewigen Heil, sondern das Leben wäre eine unwegsame Wüste, von allen Seiten und in allen Richtungen von ewiger Verdammnis umgrenzt. Die Hölle wäre das unvermeidliche Ziel und Ende aller Menschen, aller Seelen und Leiber ewiger Aufenthalt. Der Himmel über uns und alles, was wir von ihm wißen oder sagen, wäre ohne die Botschaft von den Leiden JEsu eine trügerische Verheißung, ein Ziel, nach dem wir fruchtlos seufzen müßten von Ewigkeit zu Ewigkeit.

 Die Leidensverkündigung JEsu geht in unserm Evangelio in die Verkündigung Seiner Auferstehung über. In diesem Zusammenhang ist sie das Lied des neuen Bundes, ja das neue Lied der Ewigkeit geworden. Eine bloße Leidensverkündigung, welche sich nicht mit Sieges- und Triumphgeschrei schlöße, nicht in ein Danklied von Ueberwindung des Todes übergienge: wie könnte sie freudebringend oder gar seligmachend sein? Die Leiden des HErrn sind Vorboten ewiger Freuden, wie der Kampf ein Vorbote und Wegbahner des Sieges ist. Aus dem Siege versteht man den Kampf, aus dem Osterhalleluja das viele Geschrei und die Thränen des leidenden JEsus. Seitdem die Leidensverkündigung nicht mehr Weißagung zukünftiger, sondern Preis überstandener Leiden geworden ist, ist sie selbst eine Freudenbotschaft, weil ihr Inhalt von dem Gedächtnis der seligsten Ueberwindung des HErrn unzertrennlich ist und diese niemals, auch wenn wir von ihr schweigen, neben Seinem großen Kampfe in Vergeßenheit gerathen kann.

 Bei alle dem habe ich bereits vorausgesetzt, was ich nun mit herzlicher Freude ausdrücklich dazu setze. Die Leiden des HErrn sind unsre Strafen und Seine Auferstehung ist der Beweis, daß Er ins Meer unsrer Strafen hinabgestiegen, aber in seinen wallenden, brausenden Wogen nicht untergegangen ist, sondern Frieden hergestellt hat. Er hat gesiegt und in Ihm wir. Was Er gewonnen, haben wir gewonnen, denn wir habens zu genießen und nur für uns hat Ers gewonnen, da Er der ewigen Freuden Fülle ohnehin schon besaß. Für uns hat Er gearbeitet und erworben, gekämpft und gesiegt − und wie kann es also anders sein, als daß Er aus Liebe die Arbeit und den Kampf übernommen und zu unserer Befreiung von allem Uebel der Ewigkeit ihn vollendet hat. Als ein Werk von uns völlig unverdienter heiliger Liebe und Erbarmung müßen wir die Leiden des HErrn ansehen, demnach auch Seine Leidensverkündigung als nichts anderes denn als ein Wort unverdienter Liebe, als eine Erklärung der erbarmungsvollsten Zuneigung und freiesten, unbeschränktesten Hingebung zu unserm Heil.


 Die Worte dieser Leidensverkündigung sind leicht und schön; man sollte meinen, sie seien den Herzen der Jünger eingegangen sanft und angenehm wie Oel. Und doch waren sie ihnen ein Geheimnis. Erinnern wir uns nur wieder an die nicht völlig lautern Messiashoffnungen der Jünger und aller Juden. Im allgemeinen erwarteten sie einen Helfer und Erlöser; aber insbesondere gestalteten sich ihre Hoffnungen von ihm und seiner Hilfe so gar verschieden. Fleischlicher, geistlicher − menschlicher, göttlicher, je nach der eigenen Gesinnung und Beschaffenheit dachten sie sich das Bild des kommenden Erlösers. Indes so mancherlei auch ihre Hoffnungen waren, keine von allen war der Weißagung völlig getreu, keine stieg in die Tiefen der Verheißung hinab, keine hinauf in ihre Höhen. Obwohl geweißagt, erschien dennoch die Menschwerdung als etwas völlig neues, und ein Gottmensch wurde als Messias von den Juden nicht erwartet. Obwohl zuvor verkündigt, war ein leidender, sterbender, durch Unterliegen zum Siege dringender Messias, ein Gotteslamm, das der Welt Sünde trüge, dennoch etwas Unerwartetes. Darum redete auch unser HErr vor Seinen Jüngern von Seinem Leiden, als vor tauben Ohren. Eher noch Seine ewige Abkunft, Seine ewige Gotteskindschaft und Herrlichkeit hatten sie in den drei Jahren ihres Lernens zu Seinen Füßen gefaßt, als Sein zukünftiges Leiden. So hatten sie nicht gemeint, das klang ihnen fremd und widerstand ihrem Sinn. Gleich dem Täufer wollten sie nicht noch tiefer in die Erniedrigung, sondern von der Ebene des bisherigen Lebens bergan zu dem Gipfel der Erhöhung ihres Christus steigen. Sie erwarteten das um so mehr, als sie ja viel länger dem Thun des HErrn zugesehen hatten, an dem sich schon Johannes geärgert hatte. Und eben damit, mit ihren jüdischen Vorurtheilen, brachten sie

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 121. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/132&oldid=- (Version vom 28.8.2016)