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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

sich um die Fähigkeit, die Leidensverkündigung des HErrn zu verstehen. Vor lauter Verstand der hergebrachten Vorurtheile, vor großer Vertiefung in dieselben hinein vermochten sie nicht die Weisheit Christi zu verstehen, die zwar mit Knechtsgestalt der Leiden begann, aber mit der Klarheit Seiner Auferstehung schloß. Ach hätten sie einfältig, wie es Schülern geziemte, wenn ein göttlicher Lehrer sprach, auf Sein Wort gehorcht, so hätten sie den Anfang und das Ende vernommen, nicht über dem trüben Anfang das helle Licht des Schlußes übersehen: die Botschaft hätte ihnen dann, wenn auch befremdlich, doch unmöglich so traurig sein können, als sie es ihnen wirklich war. Mangel an Einfalt, Nebel der Vorurtheile brachte sie um die Erkenntnis, welche der HErr durch Seine Leidensverkündigung in ihnen bewirken wollte. Da sie die Erkenntnis nicht zuließen, genoßen sie auch nicht der Ruhe, welche in ihr lag. Darum kam in Seinen Leidenstagen die Unruhe über sie und ein heulendes Weh erfaßte ihr Herz, als nun geschah, was der HErr vorausgesagt hatte, als Er ans Kreuz stieg und hinab ins Grab. Das Wort, welches ihre Leuchte in dieser Dunkelheit hätte sein sollen und können, war nun für sie vergeblich gesprochen, wenigstens was deßen nächste, eigentlichste Absicht betraf. Sie sahen die Kreuzigung nicht als Verklärung und Bewährung Seines wahrhaftigen Wortes, und die Verheißung der Auferstehung milderte ihr Weh nicht, stimmte sie nicht zur Hoffnung eines verherrlichten Wiedersehens JEsu. Kurz, die für die Einfalt kinderleichten Worte JEsu von Seinem Leiden waren für die vorurtheilsblinden Jünger ein Geheimnis unter sieben Siegeln.

 So gieng es bei den Jüngern, und freilich, bei uns sollte es anders gehen. Die Leidensverkündigung geht bei uns nicht dem Leiden vorher, sondern nach, ist nicht ein Strahl, welcher auf das Kreuz fällt, sondern einer, der vom Kreuze ausgeht. Des HErrn Leiden, Sterben, Auferstehen ist bei uns vollendete Thatsache. Seine Liebesabsicht und Liebesmacht, das Heilsame Seiner Leiden ist ganz offenbar geworden. Seit achtzehn hundert Jahren reden wir davon, erfahren wir daran, und zahllose Menschen sind darauf gestorben und selig worden, haben Ruhe im Leben und Sterben darin gefunden. Und dennoch ists wahr, daß auch in unsrer Zeit die einfachste, friedenvollste, seligste Botschaft für viele keinen Sinn hat, keinen Segen abwirft. Noch sind die Vorurtheile nicht verschwunden und ausgestorben, welche das Auge, das sonnenhaft sein sollte, blind und unempfänglich machen für die Herrlichkeit der Leiden JEsu. Sind es nicht die alten, welche die Jünger hatten, so sind es andere, − wie viel schlechtere oder beßere, das ist nicht der Untersuchung werth, da sie uns doch einmal der wahrhaftigen Erkenntnis, des Friedens und Trostes berauben. Prüfe dich wohl, mein Herz, wie nahe dich dieß Wort von den Vorurtheilen angeht! Warum siehst du deines leidenden Heilandes Herrlichkeit nicht? Ists, daß du Sein nicht zu bedürfen meinst, ists, daß du dich Seiner unwerth erkennst und dich die Erkenntnis deiner Unwürdigkeit von Ihm wegdrängt? Oder was ist es? Seis was es sei, − ein falsches Urtheil, ein vorschnell Urtheil, ein schädlich Vorurtheil deines blinden Auges liegt zu Grunde. Du solltest alles vergeßen und in den Himmel Seiner Liebe einfach schauen, ins Licht Seines Wortes vom Kreuze deine Augen tauchen, auf daß sie durch dieß Licht erstarkten für das ewige Schauen und durch Erkenntnis des Kreuzes und Seiner verborgenen Herrlichkeit fähig würden für die unverhüllte Pracht Seines Angesichtes, wenn wir Ihn nun schauen werden wie Er ist. −


 Aber ach des Menschen Unglück vom Anfang der Sünde her ist, daß er blind ist an Aug und Herz. Ja wir sind blind. Wie unser leibliches Auge Gott nicht schaut, findet auch unser Geist den Allgegenwärtigen nicht mehr − wie das Auge, mit dem Auge ist das Ohr und aller Sinn für Ihn erstorben. Es ist von unsrem Sehen bis zur Blindheit des Blinden bei Jericho kein so gar weiter Schritt; jede leibliche Blindheit gründet tiefer und ist nur ein Theilchen jener allgemeinen Blindheit, die unser ganzes Wesen gefangen hält. Daher kommt es auch, daß beide so viel gemein haben, daß der leiblich Blinde ein so treffendes Bild des geistlich Blinden ist und seine Heilung im Evangelio eine so lichte Wegvorzeichnung zur Heilung blinder Seelen; ja daher kommt es auch, daß so gar nicht bloß zufällig, sondern wie von Gott gewollt und nahe gelegt, Gedanken, wie die nachfolgenden sind, aus unserm Texte entnommen werden.

 Blind am Geiste, so wie er ist, ist der Mensch doch mit seinem Zustand nicht zufriedener als der Blinde

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 122. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/133&oldid=- (Version vom 28.8.2016)