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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

wahr! Sind wir Prediger, wir Stimmen vom Kreuze JEsu, etwa gleich Marktschreiern, die den Leuten viel verheißen, wenig leisten? Haben wir keinen Glauben bei euch funden? Möget ihr nicht einmal beten, daß euch Gott erleuchte und zeige, ob wir schwatzen oder reden? − Nun denn, so höre mich der HErr selbst, von dem ich rede, und erhöre mein Schreien für euch und für mich! Selig sind Deine Beter, die von Erhörung zu Erhörung und immer mehr dem hellen Tag entgegen gehen, die betend immer näher zu Dir kommen, o HErr, erst das Kreuz im Licht, dann Licht im Kreuz, die Welt im Lichte des Kreuzes, in des Himmels Licht das Kreuz, in des Kreuzes Licht den Himmel sehen. − Du Sohn David, erhöre mich, erbarme Dich meiner und aller Blinden: laß uns sehen! Dein Kreuz steht vor mir in der Nacht des Mittags vom Charfreitag: laß uns es sehen in Lichte des Abends, da die Sonne sich tief zum Untergang neigte, im Lichte der Vollendung und des Wortes: „Es ist vollbracht!“ Sprich zu uns, wie zum Blinden von Jericho: „Sei sehend!“ daß unsre Schuppen von den Augen fallen, daß wir einfältig schauen Dich und Deine Leidensschönheit, und durch solch Erkenntnis selig werden! Laß uns sehend heimgehen in unsre Hütten, zu unsern Kindern, daß wir ihnen Deine Herrlichkeit rühmen, − und von ihnen laß uns sehend zu Deinem Himmel kommen, wo wir Dich ewig schauen! HErr JEsu! Amen.




Am Sonntage Invocavit.

Evang. Matth. 4, 1–11.
1. Da ward JEsus vom Geist in die Wüste geführet, auf daß Er vom Teufel versucht würde. 2. Und da Er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte Ihn. 3. Und der Versucher trat zu Ihm und sprach: Bist Du Gottes Sohn, so sprich, daß diese Steine Brot werden. 4. Und Er antwortete und sprach: Es stehet geschrieben: Der Mensch lebet nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund GOttes gehet. 5. Da führete Ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt und stellete Ihn auf die Zinne des Tempels, 6. Und sprach zu Ihm: Bist Du GOttes Sohn, so laß Dich hinab; denn es stehet geschrieben: Er wird Seinen Engeln über Dir Befehl thun, und sie werden Dich auf den Händen tragen, auf daß Du Deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. 7. Da sprach JEsus zu ihm: wiederum stehet auch geschrieben: Du sollst GOtt, deinen HErrn nicht versuchen. 8. Wiederum führete Ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte Ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit. 9. Und sprach zu Ihm: Dieß alles will ich Dir geben, so Du niederfällst und mich anbetest. 10. Da sprach JEsus zu ihm: Hebe dich weg von Mir, Satan, denn es stehet geschrieben: Du sollst anbeten GOtt, deinen HErrn, und Ihm allein dienen. 11. Da verließ Ihn der Teufel; und siehe, da traten die Engel zu Ihm und dieneten Ihm.

 VErsuchung kam, meine Freunde, über alle geschaffenen Geister, über die Engel wie über die Menschen im Paradiese; Versuchung kam auch über Den, welcher ein Bürge der Menschheit werden sollte und geworden ist, über unsern HErrn JEsum Christum. Gleichwie Gottes Engel, obwohl heilig und rein geschaffen, für Versuchung empfänglich waren, gleichwie Adam, obschon Gottes Bild, versuchlich war, so muß auch der Menschensohn irgendwie versuchlich gewesen sein, sonst würde eine Versuchung, wie wir sie doch in unserm Texte dreifach lesen, für Ihn keinen Sinn gehabt haben, und die Ueberwindung derselben für uns keinen Werth. Denken können wir uns freilich eine völlig reine Jesusseele in Versuchung kaum oder gar nicht: da wir Gottes Bild verloren haben und in Sünden empfangen und geboren sind, so haben wir keine Fähigkeit, uns in den Zustand oder in irgend eine Lage einer sünd- und schuldlosen, reinen Seele zu versetzen. Aber wie es nun auch gewesen und zugegangen sein mag, versucht wurde der HErr, das erleidet keinen

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/136&oldid=- (Version vom 28.8.2016)