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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

und nie seitdem erlebte, erst am Tage der Himmelfahrt wurde es mit der Thronbesteigung Christi völliger, vollendender Ernst; erst an jenem Tage hielt der HErr den Einzug, von welchem der in das irdische Zion, obschon auch er heilig und hehr ist, doch nur ein schwaches Bild genannt werden kann. Ja ein Bild des Einzugs Christi zu Seiner ewigen Herrlichkeit war dieser Einzug, und wir dürfen dazu setzen: er war ein Pfand davon, ein Pfand nicht für den HErrn, der keines Pfandes bedurfte, deßen heilige Seele keinen Zweifel herbergte, sondern für die Jünger, für die Getreuen unter den Hosiannasängern, bei welchen nach der Begeisterung des Tages noch ein Geist des Glaubens und der Wahrheit zurückblieb. Diese müßen einen Strahl der zukünftigen, ja bereits nahenden königlichen Herrlichkeit auf dem Haupte des von Gott erwählten Königs schauen, jetzt schon schauen, auf daß sie an Seine Herrlichkeit glaubeten, wenn nun der Strahl vergangen und die schmerzensreiche Nacht des Charfreitags gekommen sein würde. Ein Weniges von der Ihm gebührenden königlichen Ehre nimmt der HErr voraus − um Seines Volkes willen, damit es erkennen möchte, Er sei vor Seinem Leiden und Sterben, im Leiden und Sterben, nach demselben in Seiner Auferstehung und Auffahrt, ja allezeit, gestern und heute derselbe und derselbe in Ewigkeit, nemlich Zions anbetungswürdiger und angebeteter König.


 So viel von unserm Texte heute. Es wird aber im Verlauf des Jahres derselbe Text noch einmal gelesen und besprochen werden, nemlich am Palmensonntag, wie euch das bekannt ist. Dann wird er uns ganz anders klingen, als er uns heute geklungen hat. Die verschiedene Zeit wird einen verschiedenen Gesichts- und Standpunkt für denselben Text geben, und Gottes Wort beut uns zu jeder von den beiden Zeiten aus seiner reichen Fülle das, was je am meisten paßt und frommt. Am Palmensonntag beginnen wir die große Woche, in welcher jeder Tag seine eigenen Erinnerungen und seine eigenen Texte hat. Da durchleben wir, indem wir die besonderen Texte eines jeden Tages lesen, alles wieder, was einst in der großen Woche die Jünger mit dem HErrn durchlebten. Da durchleben wir denn auch am Palmensonntag die Geschichte wieder, die wir heute lasen, die Geschichte des Einzugs JEsu, und zwar ganz in dem Zusammenhang, in welchem sie geschehen ist. Sie war der Anfang und Eingang der Leidenswoche JEsu, und so ist sie uns dann auch der Anfang und Eingang der Gedächtniswoche Seiner Leiden. Dann sehen wir noch einmal den HErrn vom Oelberg feierlich hinabziehen ins Thal und hinauf in den Tempel; aber nicht am Hosianna, sondern an des HErrn Thränen haftet dann unser betrachtender Gedanke: schon vernimmt man das wilde „Kreuzige, kreuzige!“ als grellen Widerspruch des Jubelklangs − und was wir in dem HErrn erkennen, ist trotz der Pracht, die Ihn umgibt, doch nichts anderes, als die Gestalt des Passahlammes, welches sich rechtzeitig einstellt, um zur Schlachtbank geführt zu werden. Heute ist es ganz anders. Heut denkt man nicht an den Gegensatz von „Hosianna“ und „Kreuzige“, nicht an den geschichtlichen Zusammenhang des Einzugs Christi mit allen den Begebenheiten der nachfolgenden großen Woche; sondern die Geschichte des Einzugs Christi an und für sich selbst und ihr Zusammenhang mit der Weissagung Sacharjas ist es, was man ins Auge faßt. Die Weißagung Sacharjas aber redet von der Zukunft des HErrn JEsu Christi im Fleisch, von Seiner Erscheinung auf Erden zum Trost und Heile Seines Volkes, und sie beschreibt den heute verlesenen Einzug des HErrn in Jerusalem als einen herrlichen Zug aus dem verheißenen Erdenwandel des Menschgewordenen, als ein zu hoffendes Ziel und Siegel Seiner Menschwerdung. So sieht man denn auch heute die Geschichte an. Wer ist der, der hinabreitet von Bethphage, Jerusalem zu? Es ist der gottmenschliche Sohn Davids, der große, längst erwartete König Israels. „Siehe, dein König kommt zu dir“ diese Botschaft und ihre Freude; „Hosianna dem Sohne Davids, gebenedeiet sei, der da kommt im Namen des HErrn“ − dieser sehnliche Freudengesang machen sich besonders bemerklich und regieren die betrachtende Seele in dieser Vorbereitungszeit auf Weihnachten, auf das Fest der Geburt und offenbarten Menschwerdung Christi. Der Blick auf den, der sanft einherreitet auf dem Eselsfüllen − der Blick auf den, welcher zu Bethlehem in der Krippe liegt, − es ist einer, und eine Person ist es, auf welcher er ruht. Durchaus weihnachtsmäßig ist heute die Stimmung, in welcher wir unsern Text lesen.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 003. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/14&oldid=- (Version vom 14.8.2016)