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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

daß nichts umkomme. 13. Da sammelten sie und fülleten zwölf Körbe mit Brocken von den fünf Gerstenbroten, die überblieben denen, die gespeiset worden. 14. Da nun die Menschen das Zeichen sahen, das JEsus that, sprachen sie: Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll. 15. Da JEsus nun merkte, daß sie kommen würden und Ihn haschen, daß sie Ihn zum Könige machten, entwich Er abermal auf den Berg, Er Selbst alleine.


 DRei Evangelien der Fastenzeit haben uns den HErrn JEsus Christus als einen Ueberwinder des Teufels vorgestellt, als einen Erlöser von allem Uebel. Anderer Art ist unser heutiges Evangelium. Es zeigt uns den HErrn als einen Versorger und Ernährer der Menschen, denn Er speist aus der reichen Fülle Seines guten und allmächtigen Willens fünf tausend Mann, ungerechnet Weiber und Kinder. Erst damit vollendet sich das Segensbild des HErrn. Wir haben nur die Hälfte Seines Heils erkannt, wenn wir sahen, wie Er uns von allem Uebel erlöst; die andere Hälfte sehen wir darin, daß Er Seine Erlöseten mit allem Gute füllt. Von dieser zweiten Hälfte redet unser Text und dieser Vortrag. Wenn ich euch in diesem vom Bilde des Erlösers und Erhalters der Welt − denn so dürfen wir unsern HErrn JEsus Christus nennen, − manch einzelnen Zug enthülle, nicht bloß bei einem einzigen verweile, so laßet mich freundlich gewähren. Es verleihe euch der Geist des HErrn, jeden einzelnen aufgezählten Zug so zu bewahren und zu benützen, daß er euch eine Quelle reichen Segens werde. Gehen wir miteinander bedächtig schauend von Zug zu Zug, von einem Blick ins Angesicht JEsu zum andern!


 Der HErr war über den See Genezareth gefahren, und das Volk, das Seine Wunder gesehen hatte, zog Ihm nach; der HErr aber sah von einem Berge herunter die Haufen, welche Ihm nachgezogen waren. Er, der von allen Thaten der Menschen das Unreine herausfand, des vollkommener Menschenkenntnis kein Seelenschmutz verborgen blieb, sah mit sichrem Blick, was zunächst die Menge anzog, nemlich Seine Wunder. Wäre Er gesinnt gewesen, wie heut zu Tage so viele, die mit keinem zu schaffen haben mögen, der in sein richtiges Streben Unreines einzumischen scheint, auf anerkannt rechtem Wege nicht völlig tadellos wandelt: so würde Er Sich dem Volk entzogen und vor allem vermieden haben, die verkehrte Sucht nach Wundern durch ein neues gewaltiges Wunder zu nähren. Aber so war Er nicht, Er war größer an Erbarmen, und da Er nur der Menschen Heil wollte, nicht Seine eigene Ehre, so sorgte Er nicht einzig und vor allem, daß man Sein Thun nur nicht misdeuten möchte. Er verwarf die große Schaar, die Seiner wartete, darum nicht, daß ihr Herz und Weg nicht völlig rein war, Er hatte Geduld mit ihr, in der Gewisheit, daß von der unreinen Neugier eines wundersüchtigen Herzens an der Hand des göttlichen Geistes ein Weg zur heiligen Begier der Vereinigung mit Ihm selber gefunden und betreten werden kann. Er gab dem armen Volke, was es suchte, gab es ihnen aber also, daß sie über Bitten und Verstehen empfiengen und unvermerkt zu höheren Stufen der Erkenntnis geleitet wurden.


 Das große Volk, welches JEsus vor Sich sah, war hungrig geworden. Aber es ist nicht der Hunger gewesen, der sie zu JEsu trieb, Hunger hatte sich erst unter Weges eingefunden; so treibt sie auch der Hunger nicht von JEsu weg zur Speise, die edlere Begier, Seine Werke zu schauen, hält das Gefühl des Hungers nieder; auch bitten sie den HErrn nicht um Brot; daß zugleich ihr Auge und ihr Hunger, zugleich ihrer Seelen und ihres Leibes Verlangen gestillt werden könnte oder würde, fiel ihnen wohl gar nicht ein. Sie warten auf das, was Er aus freiem Erregen Seines Herzens thun würde, auf Seine Worte, Seine Werke; ihr Auge hängt an Ihm, ihr Ohr ist weit geöffnet, um nichts zu übersehen und keines Seiner Worte zu verlieren: Was wird Er reden, was wird Er thun? Ungebeten entschließt sich der HErr in der Wüste, ihr Wirth zu sein. Er weiß, daß sie hungern und ladet sie zu Gaste! Das vorhandene Bedürfnis behandelt Er wie ein Gebet, weil es ja doch niemand stillen kann, als Er, − und gibt also kund, daß „Er versteht des Herzens Sehnen und der Augen Thränen.“ Ist Er nicht leutselig, nicht entgegen kommend, nicht zuvorkommend? Da Er selbst hungernd in der Wüste ist,

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/154&oldid=- (Version vom 28.8.2016)