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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 mir in dem Zweiten beizustimmen, was ich euch vortragen will, nemlich daß JEsu Eingang voll Liebe war. Oder läßt sich Seine Willigkeit zu so vielen, großen, schweren, zuvor wohl erkannten Leiden aus einem andern Grunde herschreiben, als aus einem Herzen voll großer, himmlischer Liebe? Eigentlich gehört es zu der Schwachheit, die mich in der Nähe des großen Feiertags befällt, der uns in dieser Woche bevorsteht, daß ich euch das nur sage: „JEsu Eingang in Jerusalem war voll Liebe.“ Ich könnt es ungesagt laßen: es ist zu kühl und kahl für diese Woche und ihren feierlich ernsten Anfang; es klingt wie nichtssagend vor den himmelschreienden Thaten Seiner Liebe, zu welchen Er Sich anschickt, durch welche Er die Welt aus den Angeln gehoben und in eine neue Bahn einer unsterblichen Hoffnung gebracht hat. Allein so ists mit dem Menschen; ja, es ist wirklich so mit dem Menschen, daß er, an einem großen Lebenspunkte angekommen, vor Gott und Seine strahlende Güte tretend, eine tiefe Regung des Bösen spürt, die sonst, wenn sie eher zu entschuldigen wäre, tief in der Seele schweigt. Da zieht Er einher, das Passalamm der Welt: Liebe ist Er, lautere, mächtige Liebe: Du siehst Ihn, du kannst es nicht leugnen. Und doch, und doch verträgst du die Frage: ob Er aus Liebe kommt? − und die frostige Versicherung, daß Er aus Liebe komme. Arme, staunende, mitten im Staunen angefochtene Seele: laß dich heben, laß dich stärken und aufrichten in deinem Glauben. Was solls denn sein als Liebe, was deinen HErrn nach Jerusalem trieb und führte? Haß wars doch nicht, was Ihn ins Leiden trieb: wer sollte sich nicht schämen, hievon auch nur noch ein Wort zu sprechen? Verzweiflung wars auch nicht; Er hatte ja keine Ursache, zu zweifeln, daß Gottes guter gnädiger Wille noch durchgehen würde, geschweige daß Er verzweifeln sollte. Habsucht wars wieder nicht; denn was hat Er davon gehabt, der arme Menschensohn, als für den nackten Leib ein hartes, schmerzensreiches Kreuz und ein kaltes Grab? Ehrgeiz wars auch nicht, denn zu welcher Schmach und Schande stieg Er hinab, und andererseits, wie gewis war Er, daß Ihn Sein Vater und mit Diesem alle heiligen Creaturen ehrten! Kurz, es mag einer ersinnen und erdenken, welch andern unvollkommeneren Grund er denken wolle: es paßt alles nicht. Die Willigkeit des HErrn zu Seinem Leiden läßt sich einmal nur aus der Liebe recht erklären.

 Von der Menschwerdung des Sohnes Gottes an bis herab zum Thale Kidron, durch welches der HErr nach Jerusalem reitet, ist all Sein Thun und Leben nur Eine Leiter der Liebe herab zur gefallenen Creatur. Der König Jerusalems, der König der Juden, der Hochgebenedeite, der da kommt im Namen des HErrn, der Sohn des Allerhöchsten, − was will Er im tiefen Thale des Kidron, was in Jerusalem, was in Gethsemane, was am Kreuze, was in all dem Leiden, was im Grabe Josephs von Arimathia? Lieben will Er, und liebt auch. Denn es ruft Ihn nichts, als der Menschen, der Sünder Vortheil, es treibt Ihn nichts, als der Wunsch, sie ewig selig zumachen; − es ist nur ihr Leiden, das Er trägt, nur ihre Strafe, die Er auf Sich nimmt; es bemüht Ihn gar nichts weiter, als ihr mühseliges, fluchbeladenes Sündenleben − und Erbarmen, Liebe, lauter erbarmungsvolle Liebe ist Sein Kommen. Sie haben es nicht erkannt, denn diese Liebe kam in verborgener Herrlichkeit! Aber erkannten sie Ihn oder nicht; jeden Falls war Liebe jeder Hauch, jeder Pulsschlag von Ihm.


 Indes was hälfe Ihm alle Willigkeit und Liebe zu Seinen frommen Absichten und uns zu unserm Heile, wenn mit Willigkeit und Liebe nicht die Macht und Kraft verbunden gewesen wäre, durch welche allein Willigkeit und Liebe fruchtbar wird? Hier hilft Ihm auch die Abkunft von David nicht zum Siege, und daß Er von Rechts wegen ein König Israels auch nach dem Fleische hätte sein sollen, half Ihm gleichfalls nicht. Hieher gehörten andere Kräfte, als die in einer adelichen Abkunft und mit einem Königsscepter gegeben werden. Es gab ja Sünden zu büßen, den Satan zu überwinden, Gott zu versöhnen, eine völlige Genugthuung für die ewige Gerechtigkeit zu leisten: was half da Menschenadel und Menschenmacht? Hieher gehörte ein Adel, zu stammen ohne Manneszuthun von einer unbefleckten Jungfrau, des Weibes heiliger, unschuldiger Same und verbunden zu sein mit der ewigen Gottheit, durch deren Bevollmächtigung allein eine Stärke, eine Kraft in die heilige Menschheit dringen konnte, wie sie zur Besiegung

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 156. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/167&oldid=- (Version vom 14.8.2016)