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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

wickelte ihn in die Leinwand und legte ihn in ein Grab, das war in einen Felsen gehauen und wälzte einen Stein vor des Grabes Thür. 47. Aber Maria Magdalena und Maria Joses schauten zu, wo er hingelegt ward.


 HOeher, als in dieser Erinnerungsstunde der letzten Lebensstrecke JEsu, kann Sein Leiden nicht steigen. Wir sind bei dem Gipfel, Gott sei Lob und Dank! Denn wenn man den Gipfel eines Berges erreicht hat, ändert sich die Richtung; es geht dann nicht mehr aufwärts, sondern bergabwärts. So kommt nun auch die Noth unsers HErrn in dieser Stunde nicht bloß auf den Gipfel, sondern sie vermindert sich auch: es wird, nachdem der heiße Kampf geendet hat, Ruhe, und die finstre Nacht, welche über dem Kreuze lastete, geht dahin, einem lieblichen Abendroth Platz zu machen, das auf den Morgen eines ewigen Tages deutet. Wohlan, meine Brüder, steigen wir mit dem HErrn die letzten Schritte vollends hinan zum Gipfel Seiner Noth und gehen wir dann mit Ihm thaleinwärts zu Seinem stillen, friedenvollen, hoffnungsreichen Grabe.


 Am Mittag des Todestages JEsu verlor, wie unser Text erzählt, die Sonne den Schein. Es war keine Sonnenfinsternis, wie sie sonst zu sein pflegen; keine rückwärts gehende Forschung der Himmelskundigen macht sie ausfindig; sie ist aus natürlichen Ursachen nicht zu erklären, weil sie durch natürliche Ursachen nicht bewirkt ward, sondern aus übernatürlicher, wunderbarer Fügung stammte. Einer Theilnahme der Natur an dem folgenschweren Ernste jener Stunden ist sie zuzuschreiben, einem Mitleiden der Creaturen mit ihrem Schöpfer und Erlöser. Alte Berichte sagen, es habe sich eine rabenschwarze Nacht über das heilige Land und die angrenzenden Länder gelagert, man habe die Sterne am Himmel leuchten sehen, und die Vögel, an der Zeit irre geworden, seien in ihre Nester gegangen. − Nun hat die Nacht an und für sich eine eigene Wirkung auf die Menschenseele. Sie hat etwas Heiliges, Ernstes, Großes, aber sie bringt auch das Gefühl der Einsamkeit und Kleinheit, und erweckt das Bedürfnis, sich anzuschließen. Nächtliche Einsamkeit ist schaurig; jedermann kann es an sich erfahren; unser HErr aber hat es in jenen Stunden, deren Andenken wir feiern, in einer Weise und in einem Maße erfahren, wie es kein Mensch je erfahren hat und auch keiner erfahren kann. Mit jener grauenvollen Nacht des hellen Mittags stieg auf Ihn eine andre Nacht hernieder, welche, obschon wir ihre eigentliche Beschaffenheit kaum ahnen können, obwohl sie Jahrhunderte, ja über anderthalb Jahrtausende lang von uns getrennt ist, dennoch aus ihrer weiten Ferne noch unsre Seele mit Schrecken und Zagen erfüllen kann. Es war die Nacht der Gottverlaßenheit.

 Wenn wir einsam sind in Nächten und schauriger Finsternis: was kann uns über das Grauen der Nächte hinwegheben, was hat uns oft hinweggehoben, was hat uns größer gemacht, als die finstern Schrecken um uns her, was hat in uns eine himmlische Freude erweckt, die, je länger wir sie nährten, desto lauter und größer in uns wurde? Es war das Bewußtsein, daß Gott mit uns ist, daß wir einen Starken zum Schutz haben, vor welchem sich die Nacht anbetend neigt, wie der Tag. Es gibt keine Nacht, in welcher wir vergehen und verzagen könnten, wenn der HErr mit uns ist. Gottes Nähe und die Gewisheit Seiner Gnade macht uns zufrieden, reich und fröhlich selbst in der Nacht des Todes. Von dem hat unser HErr JEsus Christus ein furchtbares Gegentheil erfahren. Eine gewöhnliche Nacht zwar hätte auf Ihn den Eindruck nicht hervorbringen können, wie auf uns, und wenn sie tausendfache Schrecken angezogen hätte. Er hatte ein Gewißen, das in tiefster Ruhe an Gottes Herzen schlug; in stillen Nächten suchte Er auf Ihm bekannten Wegen oft und gerne die himmlische Heimath auf; wer will die Seligkeit Seiner Nächte faßen? Aber diese Nacht, diese Nacht! − Sie war vorhergesehen und vorhergesagt. Der Sänger des zwei und zwanzigsten Psalmes hatte von ihr gesungen. Das Wort, in welches der HErr allen Jammer Seiner Seele faßte, das Psalmenwort: „Mein Gott, Mein Gott, warum hast Du Mich verlaßen?“ − war ein bekanntes, wenn schon unerkanntes, unbegriffenes Wort Jahrhunderte vorher, ehe es Der sprach, der es erfunden, aus deßen schmerzenreicher Seele es seinen Ursprung genommen hat und gequollen ist. Es ist ein nächtlich Wort, in

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/183&oldid=- (Version vom 28.8.2016)