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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Wolfe zu erretten, dem sie nicht gewachsen sind, zu deßen Ueberwindung ihnen die Kräfte fehlen und mit der Kraft zugleich der Wille. Der Miethling sieht den Wolf kommen und fleucht, er achtet der Schafe nicht, verläßt die Schafe und fleucht, denn er ist ein Miethling. Es klingt wie eine Entschuldigung, wenn der HErr dazusetzt: „Denn er ist ein Miethling.“ Es klingt, als wollte der HErr sagen: „Was kann man denn anders von einem Miethling erwarten? Er ist ein Miethling und handelt wie ein Miethling. Kann einer mehr sein, als er ist, und richtet auch einer mehr aus als er vermag?“ Für den Miethling ist damit allerdings der Vorwurf gemindert, aber der Heerde ist damit nicht geholfen. Miethlinge helfen ihr nicht. Je mehr man die Größe des Kampfes erkennt, je mehr man einsieht, daß es gilt, Gottes selige Absichten gegenüber und trotz des Teufels Wüthen hinauszuführen, daß es gilt, den Satan zu besiegen, die Menschen zu Gott zu bringen und zu Einer Heerde zu vereinigen, desto unnützer erscheinen alle Miethlinge, eine desto beßere Aufnahme sollte sich der HErr für Seine Warnung von den Miethlingen versprechen dürfen.

 Und doch sind die Schafe so versuchlich und Miethlinge finden so leicht Glauben und Anhang! Es ist so unklug, so ein unseliges Ding, sich Miethlingen hinzugeben: und doch ist nichts gewöhnlicher als das. Wo hätten die armen, irrenden Schafe nicht schon Rettung vor dem Wolfe und Heil gesucht! Die Weisheit dieser Welt tritt ihnen in immer neuen Truggestalten, mit der alten Verheißung, zum Ziel zu helfen, in den Weg. Wann hätte sie Wort gehalten? Wie oft ist sie als eine Lügnerin erfunden worden! Wann war das Seelenverderben, wann die Zerstreuung der Schafe mehr zu beklagen, als wenn Gedanken weltlicher Weisheit in die Massen drangen und die Menschen von ihnen Heil und Leben erwarteten! Ach, die weltliche Weisheit hat die Schafe nicht eigen, ist ohne Den, welchen wir meinen, selbst ein irrend Schaf und eine betrogene Betrügerin: was will sie denn dem armen Volke bieten, die arme Bettlerin, die erst selber genesen muß an der schönen Thür des Tempels, ehe sie vor andern herlaufen und Gottes Wege den irrenden Schafen zeigen kann? Sie hilft nicht vom Wolf, sie kanns nicht: ach, daß sie sich nicht mit trügerischen Verheißungen die Vermuthung erweckte, eher eine Miethlingin des Wolfes, als des HErrn zu sein! − Ich will nicht mehr viel von der Miethlingin, von ihrem falschen Weg, von ihren falschen Wegen reden: meine Seele leidets nicht, und die Liebe dringt mich zu anderem. Es hilft kein Miethling, es hilft allein der Hirte, den wir längst schon meinten und von dem ich reden will, seitdem ich heute rede.


 Es ist in keinem andern das Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, darin sie können selig werden, als allein der Name unsers HErrn JEsu Christi: Der ist der gute Hirte. Ich sage nicht: Der ist ein guter Hirte, sondern ich sage: Der gute Hirte, weil es sonst keinen gibt als den einzigen. Es soll Eine Heerde sein, so kann auch nur Ein Hirte sein. Ob man aber auch zweifeln möchte, es wird doch aller Zweifel durch das eigene Wort des HErrn zerstört, da ER spricht: Es wird Eine Heerde und Ein Hirte werden. Er sagt es und drum ist es so, und es kann auch nicht anders sein, weil es in der Welt sonst keinen gibt, der thun kann, was unser HErr JEsus Christus gethan hat und noch thut: denn ER allein hat den Wolf überwunden, ER allein bewahrt die Heerde vor Zerstreuung. Das laßt uns genauer bedenken. „Der gute Hirte läßt sein Leben für die Schafe,“ sagt Er selber. Auf wen in aller Welt paßt das, als allein auf Ihn? Es ist eine durchaus unerhörte Sache, daß ein Hirte sein Leben für die Schafe läßt. Denken wir uns einen Hirten, wie sie im Morgenlande oftmals sind, − einen Hirten, deßen ganzer Lebensberuf ist, Schafe weiden, der sie weidet und sein Geschäft mit ganzer Seele betreibt, seine Schafe lieb hat. Denken wir uns den allerliebevollsten Hirten, den Gottes Auge in Arabiens Wüsten oder sonst wo findet: läßt er denn das Leben für die Schafe, wenn sie gleich sein sind? Und ob ers thäte, was wärs? Wär es Tugend und nicht vielmehr Thorheit? Das Leben von Hunderttausenden von Schafen ist gering an Werth gegen ein einziges Menschenleben. Welcher Mensch wird sein Leben für das Leben von Schafen laßen: was für ein Todestrost soll es sein, daß Schafe sicher über unserm Grabe weiden! Ich weiß, daß hier nicht von gewöhnlichen Schafen die Rede ist, sondern von Menschen, aber ich weiß auch, daß unter dem Hirten

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/209&oldid=- (Version vom 4.9.2016)