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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Christus zu verstehen ist. Ich weiß, daß Christus, der Hirte, Seinen Schafen gleich ein Mensch ist und es scheint drum zwischen Ihm und Seinen Schafen der Abstand nicht zu sein, wie zwischen einem gewöhnlichen Hirten und seinen Schafen. Aber es ist doch ein Abstand und das kein kleiner, auch am Ende kein kleinerer, wie zwischen gewöhnlichen Hirten und Schafen. Der Hirte Christus ist gut, ist heilig, Engel besingen Ihn, des ewigen Vaters eigener Mund preist Ihn zu dreien Malen als den Sohn des Wohlgefallens, − wir hingegen sind arme, elende, verdammte Sünder. Ist das kein Abstand? Er ist der wahrhaftige Gott und das ewige Leben − und was sind wir? Ist da kein Abstand? Wenn ein gewöhnlicher Mensch für einen andern von seines Gleichen das Leben läßt, so ist das schön, aber nicht zu verwundern, denn die Gleichen tragen Liebe zu einander. Dagegen aber der Hohe und Erhabene − und wir, Er für uns im Tode! Was ist das für eine wunderbare, göttliche Liebe, die den Heiligen zu den Sündern und endlich gar in ihren Tod hinunterzieht? Und nun erst die Absicht, in welcher, die Frucht, zu welcher Er es thut, und die Art und Weise des Todes, die Er erwählt! Der Teufel, den Er selber den Wolf nennt, hatte des Todes Gewalt und sollte sie an allen Menschen üben um der Sünde willen, bis einer käme, der keine Sünde hätte, bis an den sich der Satan wagete, bis er an ihm sein Recht misbrauchete und verlöre und so auf den Heiligen und Unschuldigen, den er erwürgen würde, des Todes Gewalt übergienge, um nicht mehr in feindlichen, sondern in frommen, menschenfreundlichen, leutseligen Händen zu sein. Hier ist nun der Heilige, der nicht sterben muß, aber für die Menschen, Seine Schafe, sterben will; der einen Sold des Todes bezahlt, den er nicht schuldig ist, auf daß die frei ausgehen, welche des Todes schuldig sind. Habt ihr nicht die Worte gelesen: „Ich will den Hirten schlagen, und die Schafe der Heerde sollen sich zerstreuen?“ Wißt ihr nicht die Nacht, in welcher sie erfüllt worden sind? Als das Kind des Verderbens mit der Schaar in den Garten Gethsemane kam, was sprach der Hirte der Schafe: „Suchet ihr Mich, so laßet diese gehen.“ So entläßt Er die Schafe und geht allein in den Tod, in den bittern Tod, in den Tod, der andern Toden gleich, nichts desto weniger von allen Toden weit unterschieden ist, nicht allein um der Person willen, welche ihn leidet, nicht allein um der Absicht willen, sondern auch um der Bitterkeit willen, deren er voll ist. Denn es ist nicht bloß zeitliche Strafe, welche der HErr erduldet, sondern auch Höllenstrafe. Es ist der Tod, wie ihn der Sünder verdient, das Urtheil Gottes zugesprochen, der Satan auszuüben hatte. Des ganzen Todes ganze Last und ganzen Schmerz erduldet der gute Hirte für die Schafe. So beugt sich keine Mutter über das Kind, um die Pfeile des Bösewichtes aufzufangen, mit ihrem Leibe die Pfeile aufzufangen, welche dem Kinde vermeint sind, wie sich die unaussprechliche Liebe des guten Hirten über die Schafe hinbeugte und die Klauen und den Rachen des Wolfes aufnahm, die den Schafen vermeint waren! Ob mehr die Liebe, mehr das Leiden anzustaunen sei, wer kann das sagen, wer wählen? Wohl singt hier die heilige Kirche:

Ich kanns mit meinen Sinnen nicht erreichen,
Mit was doch Dein Erbarmung zu vergleichen.
Wie kann ich Dir denn Deine Liebesthaten
Im Werk erstatten?


 Indes, wenn nun gleich Christus sterbend den Satan überwand, wer hätte es gewußt, wer wäre es inne worden, wenn Er im Tode geblieben wäre, wenn Er bloß für die Schafe gestorben und weiter nichts geschehen wäre? Seine Schafe waren zerstreut, die er schon versammelt hatte, und wären auch zerstreut geblieben, und von allen den Millionen, die herbeigeführt werden sollten zu Ihm und Seinem Zion, wäre nicht eine Seele herzugekommen. Die Macht, welche dem Satan abgenommen war, zu tödten, wäre nicht zum Segen der zerstreuten Menschengeschlechter angewendet worden. Obgleich in JEsu Händen, hätte sie doch den Menschen keine Hilfe gebracht, und diese wären doch Kinder des Todes und Verderbens geblieben nach wie vor. Aber es wurde anders. Der HErr ist auferstanden und ist in die Höhe gefahren und erfüllte mit Seiner gottmenschlichen, seligmachenden Gegenwart alle Lande. Und wohin Er unsichtbar gieng, da giengen mit Ihm sichtbar Seine heiligen Knechte, keine Miethlinge, sondern selbst errettete Schafe, welche durch Seine Liebe lieben und sterben gelernt hatten. Es begann die große, selige, letzte Stunde, in der wir jetzt noch leben, die Stunde, in welcher die Schafe herbeigerufen und zusammengeführt

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 199. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/210&oldid=- (Version vom 4.9.2016)