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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

was Er hören wird, das wird Er reden, und was zukünftig ist, wird Er euch verkündigen. 14. Derselbige wird Mich verklären, denn von dem Meinen wird Er es nehmen und euch verkündigen. 15. Alles, was der Vater hat, das ist Mein. Darum habe Ich gesagt: Er wird es von dem Meinen nehmen und euch verkündigen.


 AUch dieses Evangelium wie das vorige versetzt uns in die Nacht, da der HErr verrathen ward, und wir hören in demselben den HErrn, wie Er den Jüngern Seinen Hingang ankündigt und dessen selige Früchte auslegt. In den Ohren der Jünger klang eine Ankündigung des Hingangs JEsu gerade wie die Ankündigung Seiner Leiden und Seines Todes. Wie sie diese nicht verstanden und aus ihr bloß die Gewisheit einer bevorstehenden Trennung entnahmen, so vermochten sie auch in jener nichts, als die unliebe Botschaft der Trennung zu erkennen, welche sie um alles gern vermieden hätten. Deshalb werden sie bei den Worten JEsu traurig und bleiben es auch, Er mag nun bloß von dem Anfang des Hingangs, von Seinen Leiden, reden oder Er mag von dem seligen Ziel und Ende desselben erzählen. Es geht ihnen wie den Trauerleuten, welche nicht das ewige Glück ihrer Todten, sondern nur die Trennung und den eigenen Verlust ins Auge faßen. Gerade so fragten auch die Jünger nicht: „Wo gehst Du hin?“ sondern ihr Herz war voll Trauer, da sie ja doch über den einen Gedanken nicht wegzukommen vermochten: „Du gehst von uns hinweg, Du verläßest die Deinen.“ Ihre Traurigkeit war natürlich, man kann Mitleid mit ihnen haben; stellt man aber, was sie fühlen, ins Licht vor Gottes Angesicht: so kann man sich doch nicht verhalten, daß Selbstsucht in der Traurigkeit ist und daß sie von ihr entledigt werden mußten.

 Bei uns, meine Freunde, gibt es keine Trauer mehr über den Weggang JEsu; von jener natürlichen Liebe der Jünger zu ihrem HErrn sind wir weit entfernt und müßen auch von ihr entfernt sein, da wir Ihn nicht mehr dem Fleische nach kennen. Es findet sich zwar hie und da eine Traurigkeit über den Mangel an Schauen JEsu, aber sie findet sich selten, und wenn ja, so hat sie mit jener Traurigkeit der Jünger nichts zu schaffen. Die Traurigkeit der Jünger ist fleischlich, die, von welcher wir reden, ist geistlich. Jene kann man gar nicht haben, diese, an sich auch nicht die höchste Stufe christlichen Lebens, ist, wie gesagt, selten, − was aber gemein ist, was sich gewöhnlich findet, ist eine schauderhafte Lauheit und Gleichgültigkeit gegen die allerheiligste Person des HErrn. Sichere Christusvergeßenheit und ungestörter Genuß dieser Welt, eine Hingebung an ihre Freuden und an ihre Leiden werden sogar für hohes Lob gehalten. Wer das nicht gut heißt, das anficht, darin stört, ist unbequem. Dieser Zustand ist viel trauriger als jener der Jünger und verursacht, daß für das Verständnis unsers Evangeliums wenig empfänglicher Boden vorhanden ist.

 So verschieden nun aber auch unsere Gemeinden von den Jüngern JEsu und ihre Stimmung von der der Jünger JEsu sein mag, und so wenig Anklang auch die Trostreden, welche der HErr an Seine Jünger gerichtet hat, bei den meisten Christen unserer Tage finden mögen: so will ich mich doch meiner Pflicht, euch die in unserm trostreichen Texte enthaltenen hervorstechenden Gedanken des Näheren vorzulegen und zu zeigen, nicht entziehen. Der HErr, der heilige Geist, kennt eure Herzen, kann euch wider mein Vermuthen geistlich speisen und durch die süßen Worte JEsu zu diesem eurem Heiland führen. Ihm sei es mit sehnlichem Flehen empfohlen!

 In der Seele der trauernden Jünger JEsu lag eine stumme Frage, welche der HErr erkannte und beantwortete. Die Frage war diese: Warum gehest Du hin, warum verläßest Du uns?“ Und die Antwort des HErrn heißt: „Es ist euch gut, daß Ich hingehe“ − oder was eben so viel ist: „Es ist euch nützlich.“ Zu dieser allgemeinen Antwort des HErrn verhält sich alles Uebrige im Evangelium, wie eine Begründung und nähere Erklärung.

 Der erste Grund, warum der Hingang JEsu den Jüngern gut und nützlich sein sollte, ist dieser: „So Ich nicht hingehe, so kommt der Tröster nicht zu euch. So Ich aber hingehe, will Ich Ihn zu euch senden.“ Der Tröster, den der HErr senden wollte, war der heilige Geist. Er wollte Ihn vom Himmel senden; dies konnte Er nicht, ehe Er selbst aufgefahren war in den Himmel. Drei große Gotteswerke sind: des Vaters Schöpfung, des Sohnes

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 208. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/219&oldid=- (Version vom 4.9.2016)