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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

aber dieses und nach dem Gedankengang, den wir festhalten, ER Selbst, der Neugeborene, mit dem Reichtum Seiner Segnungen kommt, desto mehr geziemt es sich auch, des Vorläufers zu gedenken, der vor Christo hergieng, und eben so ein sicheres Zeichen des vorhandenen, nahenden Christus war, wie der Morgenstern ein sicheres Zeichen der vorhandenen, kommenden Sonne ist. Dieses Vorläufers gedenken nun auch die Evangelien der beiden letzten Adventsonntage. Johannes und JEsus heute, über acht Tage JEsus und Johannes, der Morgenstern und die Sonne, der HErr und Sein Engel erscheinen uns in diesen Evangelien unzertrennlich. Heute sehen wir den Vorläufer Christi in seiner Schwachheit, am nächsten Sonntage, wo wir dem Feste um eine Woche näher gekommen sein werden, sehen wir ihn in seiner Stärke. Heute sehen wir ihn im Kerker und hören ihn sehnsüchtig fragen: „Bist Dus oder nicht?“ Ueber acht Tage sehen wir ihn, ganz bestrahlt von unsrer Weihnachtssonne, mit dem zuversichtlichen Bekenntnis der Wahrheit auf den Lippen.

 Bleiben wir heute bei dem fragenden Johannes. Seine Frage: „Bist Dus“ ist wichtig für alle Menschen, ist der Betrachtung und Beantwortung werth. Was wäre Johannes, wenn ERs nicht wäre? Was wäre die Kirche? Was wäre Advent? Voll Täuschung und Betrugs, voll Betrogener und betrogener Betrüger wäre die Welt! Kein Trost, kein Licht, eine Finsternis ohne Licht, kein Zweifel, sondern eitel Verzweiflung wäre übrig. Wohl uns, daß Johannis Frage so wol beantwortet wird. Laßt uns fröhlich mit einander unsern Text betrachten. Er zerlegt sich wie von selbst in drei Teile von verschiedener Wichtigkeit, indem er

erstens erzählt die Anfechtung Johannis,
zweitens deren Heilung durch Christum,
drittens das Lob des Angefochtenen aus Christi Munde.

 Von einer Anfechtung Johannis wollen viele nichts wißen. Nicht er soll gezweifelt, nicht um seinetwillen soll er die Frage: „Bist du, der da kommen soll“ gestellt, nicht um seinetwillen soll er seine Jünger zu Christo geschickt, nicht für ihn soll Christus geantwortet haben; alles soll ein frommer Betrug gewesen sein, in den sich auch der HErr geschickt hätte. Der gefangene Täufer habe seine zweifelnden Jünger näher zu JEsu bringen wollen; habe ihre Zweifel zu eigenen angenommen, sie als die seinen in ihren Mund gelegt. Er habe vor den Jüngern als ein Zweifelnder erscheinen wollen, damit er sie füglich zu Christo senden könnte, damit ihnen ihre Zweifel von Christo selbst gelöst und sie von des HErrn Liebe, Macht und Weisheit überwunden würden. − Und Christus sei in Johannis fromme List eingegangen! − Ich kann es nicht glauben, meine Brüder, daß es so gewesen. Der ganze Liebesplan wäre so unnatürlich angelegt gewesen, − und daß ichs zum dritten Mal sage: Christus wäre auf den Plan eingegangen. Die ganze Auslegung, welche Johannem und den HErrn in ein schiefes Licht stellt, ist wol nur die Frucht einer gewissen Angst, es möchte der Würde Johannis zu nahe getreten werden, wenn man auch ihn als der Anfechtung unterworfen darstellen müßte. Allein es wird sich im Verlauf dieses Vortrags zeigen, wie wenig die Achtung vor Johannes dadurch leidet, daß man auch ihn in dem menschlichen Zustande der Anfechtung sieht. Wenn aber auch das anders wäre, was hälfe es denn? Der Text einmal schreibt die Anfechtung dem Täufer zu, dem Täufer antwortet der HErr und ihn vertheidigt Er gegen den möglichen Vorwurf, der unter dem Volke aus der wargenommenen Schwachheit eines Starken hätte aufkommen können. Nicht eine Sylbe im Texte veranlaßt eine Deutung der Frage Johannis, wie sie beliebt geworden ist. Bleiben wir also bei der Erzählung und legen wir keine Hand an, das Bild des Heiligen und Helden Johannes willkürlich zu verschönern, da er ja grade so wie er dargestellt wird, Johannes selbst und alles, was wir im Texte lesen, zu seinem Bilde paßend ist. − Es ist wahr, Johannes ist ein Wunderkind seines Vaters und seiner Mutter. Schon in Mutterleib ist er mit dem heiligen Geist erfüllt worden. Von Kindesbeinen an ist ihm sein Freund und Verwandter JEsus als Christus dargestellt und von ihm als solcher erkannt worden. Und obschon er ihn früher nicht aus eigenen Offenbarungen erkannt hatte, so wurde ihm doch am Jordan auch Offenbarung verliehen: er hörte die Worte des Vaters und sahe den Geist in der Gestalt einer Taube herabfahren und auf JEsu bleiben. Von da an glaubte er nicht mehr seinem Vater Zacharias, seiner Mutter

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 014. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/25&oldid=- (Version vom 14.8.2016)