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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Seinen eingeborenen Sohn gab.“ Er gab der Welt Seinen Sohn − das ist ein staunenswerthes Wort. Also Er hat einen Sohn: dieses Vaters Sohn, was für ein Wesen muß Er sein? Dem Vater gleich an Wesen, Art und Majestät! Und diesen Sohn gibt Er der Welt. Es ist nun freilich eine reine Unmöglichkeit, daß der Vater der Welt Seinen Sohn so geben sollte, daß Er Selbst Ihn und der Sohn den Vater verloren hätte. Gott Vater kann Gott Sohn nicht so hingeben, daß Er nicht mehr Sein wäre: des Vaters und Sohnes Einigkeit ist eine wesentliche, und so wenig Gott aufhören kann, Gott zu sein, so wenig kann Vater und Sohn getrennt werden. Er gibt allewege so, daß er Sich nicht vergibt; Er gibt, was Er ewig behält, und Sein Geben erstattet fremden Mangel, ohne die eigene Fülle auszuschütten. Er gibt der Welt Seinen Sohn, von dem sie zuvor nichts gewußt, den sie nicht begehrt hat, − Er gibt und offenbart zugleich Seinen Sohn und bringt so die Welt in einen Besitz, welcher, noch ehe nur des Sohnes Werk gethan ist, sie in eine ganz andere Lage versetzt, aus der verzweifelt bösen eine hoffnungsvolle Lage macht. So wie nur der Sohn gegeben ist, kann die Welt nicht mehr als eine völlig verlorene angesehen werden: die Welt kann nicht verloren werden, die ein solches Geschenk empfangen hat. Und wenn sich nun erst der reiche Sinn des Gebens, dieses Wortes voll allerreichster Bedeutung, enthüllt, wie werden die Engel jauchzen und die Teufel zagen! Aber ich versetze mich zu sehr zurück in die anfängliche Zeit des Gebens; ich vergaß einen Augenblick, daß es ja Pfingsten ist und daß uns die sich nunmehr schließende Reihe schöner Gottesfeste des Gebens Sinn bereits von einer Stufe zur andern enthüllt hat. Am Anfang, als der HErr zu geben beschloß, da war der Entschluß schon ein Geben. Als der Engel am heiligen Tage der Verkündigung zu Marien trat, der heilige Geist über die Jungfrau kam, die Kraft des Höchsten sie überschattete, da war das Geben schon wundervolle Wahrheit worden: Gott gab Seinen Sohn in die Menschheit. Und von da an war jeder Tag Seines Lebens eine Stufe des Gebens mehr. Sein Geburtstag, Sein Tauftag, Sein Todestag, Sein Auferstehungstag, Sein Pfingsttag, − jeder kann die Aufschrift: „Also hat Gott die Welt geliebt, daß Er Seinen eingeborenen Sohn gab,“ in besonderem Sinne tragen. Und wenn wir erst die Werke Christi recht bedenken, was Er gewonnen und erstritten, für uns gewonnen und erstritten, was mit Ihm uns alles gegeben und geschenkt ward, wie jede Gabe, die Er uns erworben, es Ihm möglich machte, Sich uns persönlich mehr zu nahen, Sich uns völliger zu geben! Er geht in den Tod, um uns zu versöhnen, Er kommt aus dem Tode, um uns Unsterblichkeit zu bieten, − und nachdem Er uns versöhnt und unsterblich gemacht hat, wird Er vollends mit uns eins, indem Er persönlich in uns Herberge nimmt und uns zu Seinen Tempeln macht. Charfreitag und Ostern bereiten Pfingsten vor und an Pfingsten wird Er uns so ganz gegeben! Und auch Pfingsten wird nicht das letzte Geben sein. Die Ewigkeit wird uns noch mehr enthüllen. Wie wird die Liebe Gottes von Tag zu Tage und von der Zeit bis in die Ewigkeit enthüllt, wie wird Sein Sohn immer mehr unser, wie wird uns immer mehr durch That und Wahrheit Gottes Lieb und Gabe erklärt und verklärt! − Gottes Sohn ist unser! Hat Gott uns Seinen Sohn geschenkt, wie sollte Er uns mit Ihm nicht alles schenken! Wie sollte also Gottes Absicht nicht erreicht, die Welt nicht selig werden können? Gott hat unser Heil möglich gemacht und wir könnten so leicht selig werden!


 Und doch werden nicht alle selig, sondern, wie wir wißen, es scheidet sich, es gibt ein Gericht, das ist eben eine Scheidung; − die einen werden selig und die andern werden es nicht. Gottes Liebe ist so reich, ergießt sich über alle, will keinen einzigen verloren gehen laßen; Sein Himmel, wie Sein Herz ist weit genug für alle. Und doch werden nicht alle selig! „Er hat, wie unser Text ausdrücklich sagt, Seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, daß Er die Welt richte, sondern daß die Welt durch Ihn selig werde.“ Und doch, bei dem ausgesprochensten Willen des HErrn, trotz der gewaltigsten Mittel, den Menschen zum ewigen Leben zu helfen, geht eine große Schaar verloren! Ist denn vielleicht ein erschwerender Umstand vorhanden, den wir etwa noch nicht berührt haben? Gott hat Seinen Sohn gegeben, das ist wahr. Aber Er ist nicht sichtbar vorhanden; wird es vielleicht dem Menschen schwer gemacht, Ihn zu

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 242. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/253&oldid=- (Version vom 4.9.2016)