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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

apostolischen Registers entsprechen. Wenn dann diese Erkenntnis dazu angewendet wird, den HErrn der Gemeinde um Erbarmung anzuflehen, daß Er nicht ansehe unsre Sünden, sondern auch uns wieder eine größere Fülle von Gaben mittheilen wolle; so ist damit gewis etwas sehr Gutes und Folgenreiches geschehen. Denn was ist reicher an Folgen, als das Gebet, zumal wenn es um Gaben für die Gemeinde bittet, welcher der HErr Selbst so gerne die gesammte Fülle himmlischer Schätze verleiht.

 Anstatt einer Reihe von Bemerkungen zu den einzelnen angeführten Gnadengaben, welche der Raum nicht faßen würde, will ich wenigstens den ersten Satz des Textes erläutern. „Hat jemand Weißagung, so sei sie dem Glauben ähnlich,“ spricht der Apostel. Es fragt sich hier, was Weißagung und was Glaube sei? − Weißagung könnte, wie an andern Stellen der heiligen Schrift, die Gabe sein, zukünftige Dinge vorauszusagen. Dann würde aber nicht recht zu verstehen sein, was unter Aehnlichkeit des Glaubens gemeint ist. Zukünftige Dinge geschehen nach Gottes Willen, und der die Gabe hat, sie vorauszusagen, muß sie verkünden, so wie sie sein werden und wie sie ihm geoffenbart sind. Von einer Aehnlichkeit mit dem Glauben kann da keine Rede sein, zumal ja Gottes Werke und der Glaube einander nicht widersprechen können. Unter Weißagung werden wir drum wie an andern Stellen die Gabe zu verstehen haben, vermöge welcher man die heilige Schrift nach dem Sinne des heiligen Geistes, welcher sie eingegeben hat, auslegen und erklären kann. Und in der That ist es eine besondere, der eigentlich prophetischen nahe verwandte Gabe, die Schrift auszulegen, und in den ersten Zeiten fand sich diese Gabe in einem Maße, von welchem uns gegenwärtig wenig übrig geblieben ist. Das 14. Cap. des 1. Briefes Pauli an die Korinther kann über diese besondere Gabe der Schriftauslegung mehr Erkenntnis und Licht geben.

 Nun ist es aber offenbar, daß einer, der die Schrift auslegt, andere, welche dieselbe Gabe nicht haben, auch leicht verführen kann. Es könnte ein böser Geist ihn selbst betrügen und aus ihm reden; er könnte auch selbst den boshaften Vorsatz faßen, unter dem Scheine prophetischer Schriftauslegung Lehren zu verbreiten, welche der Gemeine zu großem Schaden gedeihen könnten. Was sichert nun den Propheten selbst gegen falsche Eingebung, die Gemeinde gegen falsche Auslegung Satans oder seiner Knechte? Da muß doch der Geist der Weisheit und der Ordnung seinen Knechten und seinem Volke eine Regel gegeben haben, durch welche der Segen der prophetischen Schriftauslegung in ein sicheres Bette eingedämmt, Schade und Mißbrauch vermieden wird. Und diese Regel liegt eben in dem apostolischen Satze: „Hat jemand Weißagung, so sei sie dem Glauben ähnlich.“

 Es fragt sich nun nur, was unter dem Glauben zu verstehen sei, welchem ähnlich die Weißagung sein soll. Da müßen wir uns denn erinnern, daß es eine Anzahl gewisser, heller, aus der heiligen Schrift unwidersprechlich hervorgehender Glaubenssätze gibt, zu deren Auffindung es keiner prophetischen Gabe bedarf, die jedes vorurtheilsfreie Auge findet. Diese zweifellosen Glaubenssätze bilden das Glaubensbekenntnis einer jeden Zeit der Kirche. So entstand z. B. das apostolische Symbolum auf diese Weise; es ist nichts anderes als die Zusammenfaßung der gewissen Glaubenssätze, an welche man sich in der ersten Zeit hielt. Im Streite und der Anfechtung der späteren Zeit machte der heilige Geist die Kirche Gottes fernerer Erkenntnis gewis, und die Kirche legte, was sie hell und klar erkannte, in die erweiterten Glaubensbekenntnisse der Folgezeit nieder. So entstanden das nicänische, das athanasianische Bekenntnis, welche beide, wie das apostolische, sich, nachdem sie einmal gefunden sind, jedem Leser der heiligen Schrift bewähren. − Was nun aus den hellen, klaren Stellen der Schrift unabweisbar hervorgegangen, der Zusammenklang gewisser Glaubenssätze, wie ihn die Kirche aufgenommen: das ist der Glaube, dem keine neue Weißagung unähnlich sein und widersprechen darf.

 Es sind, meine Freunde, namentlich in der neueren Zeit viele Schriftauslegungen gekommen, welche, so fein gesponnen auch ihr Faden sein mag, nimmermehr das Volk betrogen haben würden, wenn die Regel des heiligen Apostels fest gehalten worden wäre. Kennen nicht alle das apostolische Symbolum, oder das nicänische, das athanasianische, den kleinen Catechismus, die augsburgische Confession? Vermag nicht jeder, der sehen kann und Menschenverstand hat, diese Bekenntnisse aus heiliger Schrift zu prüfen und zu bewähren? Wäre nicht schon die kürzeste Form des Glaubens, das apostolische Symbolum, hinreichend

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 261. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/272&oldid=- (Version vom 14.8.2016)