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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

vergibt gerne und ist kurzum gleich einem Bande der Vollkommenheit, einer Kette, die viele zur christlichen Vollkommenheit gehörige Tugenden wie einzelne Glieder zu einem Ganzen voll Kraft und Stärke vereinigt. Wo die Liebe ist, da hat sie alles bei sich, was in allen Fällen Streit verhütet und Frieden erhält.

 Mit dem Frieden der Liebe vollendet sich übrigens die Aufgabe des Lebens einer Gemeinde nicht. Wenn sie, wenn alle ihre Glieder sich heiliglich und im Frieden vertragen und eines dem andern zu Lieb und Wohlgefallen lebt; so wird alles erst dadurch, was es soll, daß es zu einem Wandel vor Gottes Angesicht, zu feiernder Anbetung verklärt wird. Es wird Lieb und Friede bald ersterben, wenn sie nicht in den Vorhöfen des HErrn grünen und aus Seinen schönen Gottesdiensten täglich neues Leben schöpfen. Gleichwie ein Baum an Waßerbächen gedeiht, aber ein Baum in der Wüstenei verdorrt; so gedeiht Friede, Liebe und alles Leben nur an den Bächen des immer frischen Wortes Gottes und unter dem Hauch der Psalmen und Lobgesänge und geistlichen, lieblichen Lieder. Wo das nicht ist, gedeiht kein Kraut Gottes, da ist Wüstenei. − Ueberschätzen wir etwa Wort und Gottesdienst? So hat auch der Apostel sie überschätzt, da er den Frieden der Liebe mit dem Worte und dem gottesdienstlichen Gesang so eng verband, wie wirs in unserm Texte lesen! So hat auch er sich geirrt, Vergebliches, Eitles geboten, Nutzloses angeordnet! Wer wird das behaupten, wer einen solchen Satz aufstellen? Der Apostel konnte sich nicht irren, seine Anweisungen waren niemals nutzlos, allzeit segensreich! So muß auch Fried und Liebe einerseits und Wort und Gottesdienst andererseits genau zusammenhangen, und es wird wohl das Gerathenste und Beste sein, die Erfahrung zu machen und dann zu urtheilen.

 Eins noch bemerken wir. Gottesdienste, soweit sie in Versammlungen der Gemeine bestehen, kommen und gehen wieder vorüber, sie sind hier auf Erden, wo es neben dem ewigen auch einen zeitlichen Beruf gibt, etwas Wandelbares. Aber es soll dennoch von ihnen aus Feier und Andacht aufs ganze Leben übergehen und je länger wir leben, je mehr soll unser gesammtes Leben, auch das im irdischen Berufe Gestalt und Weihe der Gottesdienste an sich nehmen. Alles soll im Namen, d. i. im Bekenntnis und zur Ehre JEsu gesprochen und gethan werden und das ganze Leben soll ein Dankopfer werden, das wir durch Ihn Gott dem Vater bringen. Der Knecht und die Magd, Hausherren und Frauen, alle Glieder der Gemeinde sollen sich immer mehr als Priester Gottes fühlen und alle ihre Werke des Berufs durch Danksagung und Bekenntnis des höchsten Namens JEsu zu reinen Opfern machen. So wird das Leben aus dem Unreinen und Gemeinen erhoben, das Irdische himmlisch gemacht, Seel und Leib zum Himmel vorbereitet, zu seiner Ruhe, zu seiner ewigen freudenvollen Feier. − Dazu bereite uns alle der barmherzige Gott durch Seinen Geist um Christi willen! Amen.


Am sechsten Sonntage nach dem Erscheinungsfeste.
2. Petri 1, 16–21.

 UM einmal bei diesem Texte den Inhalt in umgekehrter Ordnung vorzulegen, erinnere ich euch zuerst an das vollkommen giltige Zeugnis des heiligen Apostels Petrus von der Weißagung, die wir in den Büchern der heiligen Propheten finden. Keine Weißagung ist die Frucht eines menschlichen Entschlußes; obschon ein natürlich Hochbegabter das Auge schärfte, in die Zukunft des Reiches zu schauen, es bliebe ihm dennoch alles dunkel und kein lichter Strahl erhellte ihm die zukünftigen Dinge. Jede Weißagung ist eine Gabe des heiligen Geistes, und die heiligen Menschen Gottes, die Propheten, haben, was sie schauten, geredet und geschrieben nicht wie sie wollten, sondern je nachdem sie der Geist zu mündlicher oder schriftlicher Rede drang. Das prophetische Wort ist also ein Wort des Geistes durch Menschen, aber nicht ein Menschenwort, aus menschlichem Geiste entsproßen.

 So wie nun die Weißagung nicht von Menschen stammt, so wird sie auch nicht von Menschen, nach eigenem Entschluße ausgelegt. So wenig ein Mensch sich entschließen kann ein Prophet zu werden, so wenig ist es mit dem Entschluße, ein Ausleger der Prophezei zu werden, gethan. Der Geist des HErrn erweckt Propheten − und Auslegung der Prophezei steht

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 265. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/276&oldid=- (Version vom 14.8.2016)