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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

die Anfechtung zum Hochmuth nahe liegen. Wahr ists, aber der HErr sah dieß eher als es Menschen sahen und Er sorgt für die Demuth der Seinen mehr, als auch das liebevollste menschliche Herz. Darum hat Er auch schon gesorgt, daß zum Gewicht das Gegengewicht komme. „Auf daß ich mich nicht der hohen Offenbarung überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nemlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlage, auf daß ich mich nicht überhebe“. So erzählt der Apostel selbst. Und wenn wir nun gleich in die von ihm genannten Plagen keine rechte Einsicht haben, so ist doch keine Ursache, sie anders als wörtlich zu nehmen oder die Worte als übertreibende Beschreibung natürlicher Leiden zu verstehen. So war also allerdings für himmlische Gnaden ein höllisches Gegengewicht vorhanden, und zwar ein solches, welches auf kein Gebet wich, von welchem dem Apostel die Antwort wurde, daß es bleiben sollte, jedoch unbeschadet der Gnade, die in ihm war. Er mußte seinen Pfahl und Satansengel − und die Gnade zusammen behalten.

 Liebe Brüder! Hochmüthig ist jeder bis ans Ende, nur mit dem Unterschied, daß den einen der Hochmuth beherrscht, während er den andern nur anficht. Es ist ein Beweis von Unkenntnis des eigenen Herzens und insgemein des Menschenherzens, wenn man zuweilen mit bedenklicher Miene spricht: „Dieser, jener hat auch noch Hochmuth“. Wer hat ihn denn nicht? Und von wem wäre er vor der Grube gewichen? − Aber so gewis wir die hochmüthige Reizung in uns haben, die uns gerne alle unsre Werke verdärbe und unsre ganze innere Gestalt zu einem abscheulichen Zerrbild deßen machte, was wir sein sollen und wollen; so gewis läßt uns der HErr nicht ohne gnädige Demüthigungen, unter denen wir je länger, je mehr zur wahren Demuth reifen können. Daß nur keiner seine Demüthigungen wegbeten wolle! Die laßt uns ja behalten und dem gnädigen Geber dafür danken, welcher durch sie unsre Vollendung erzielt und unsere Bewahrung vor dem Uebel.


Am Sonntage Estomihi.
1. Corinther 13, 1–13.

 DAs zwölfte Capitel des ersten Briefes an die Korinther handelte von den außerordentlichen Gaben des heiligen Geistes und von den Aemtern, in welchen sich die Gaben erweisen. Am Schluße ermuntert der Apostel seine Leser, nach den besten Gaben zu streben. Er findet also ein demüthiges Streben nach großen Gaben nicht für tadelhaft, wenn es nur in der rechten Absicht und Weise geschieht. Aber eben das Letztere ist die Hauptsache: die rechte Absicht, die rechte Weise des Strebens nach großen Gaben muß vorhanden sein − und beide liegen in dem Worte Liebe ausgesprochen. Darum nennt der Apostel die Liebe den köstlicheren Weg und beginnt in unserm Texte jenes berühmte Lob der Liebe, aus dem es einem ohne alle Anweisung von selbst klar wird, daß ein Mensch in der Liebe die allerhöchste Gabe besitzt, ohne welche alle andern Gaben geringen Werthes sind.

 Wie schön steht dieß Lob der Liebe als Thürhüter an der Schwelle der Passionszeit. Es zeigt mit Fingern auf das große Thema aller Passionstexte, auf die Liebe; denn in Christo, dem Leidenden, tritt uns die vollkommene Liebe entgegen, und von Seinem heiligen Benehmen sind alle Züge und Eigenschaften des Liebesbildes hergenommen, welches uns aus unserm Texte in hellem Glanz entgegenstrahlt. Es zeigt aber auch mit Fingern auf die Frucht aller Passionsbetrachtungen, nemlich durch den Glauben an Ihn, welcher der Liebe Urbild ist, selbst der Liebe voll zu werden, welche Ihn vom Himmel bis zur Erde und von der Krippe bis zum Grabe gedrungen und geleitet hat. Möge uns die ganze Passionszeit hindurch diese Epistel und ihr Inhalt geleiten! Mögen wirs von Tag zu Tage tiefer faßen und erfahren, daß wir im Leiden JEsu das größte Werk und den herrlichsten Sieg der himmlischen Liebe feiern!

 Könnte ich euch nur den Text recht wichtig machen, zu erklären enthält er fast nichts; es sind lauter helle, klare, gemeinverständliche Worte. Jedes einzelne Glied des Textes durchzugehen verbietet mir der Raum. Aber ich blicke über den ganzen Reichtum hin, den er umschließt,

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 269. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/280&oldid=- (Version vom 14.8.2016)