Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/285

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

vor Gottes Augen mit mir geht, wohin ich gehe, mit mir lebt und mit mir nicht stirbt, sondern mich vor Gottes Thron begleitet, um dort wie ein Löwe auf mich loszugehen und vor Seinem Angesichte mich zu erwürgen! Aber das wenn einer machen könnte, daß ich meine Sünden nicht zu vergeßen brauchte, daß ich an sie denken dürfte, ohne sie fürchten zu müßen! daß ich bei der Wahrheit meiner Selbsterkenntnis bleiben dürfte, ohne daß sie mich umbrächte, ohne daß ich an ihr stürbe! Dahin wenn es einer brächte, daß ich beim Gedächtnis meiner Sünde stille sein und auf den Frieden und die Gnade Gottes hoffen könnte und dürfte! Den wollte ich loben, ich wollte ihm anhangen, ja ich würde ihn anbeten! Denn ich schwör darauf: das kann keiner, als einer, welcher der Anbetung würdig ist. − − Verzeihe, lieber Leser, daß ich mit dir scherzte, als wüßte ich Ihn nicht, den ich anbete! daß ich Ihn vor deinem Auge von ferne umkreiste, da ich ja beßer und ohne Weiteres zu Seinen Füßen gefallen wäre und gerufen hätte: „Mein HErr und mein Gott!“ − Kennst du Den nicht, auf den das tägliche Morgen- und Abendopfer Israels und alle Opfer aller Völker geweißagt haben, von welchem alle Priester, die jemals geopfert haben, nur schwache Bilder sind? Kennst du Den nicht, „der Sich Selbst ohne allen Wandel durch den heiligen Geist Gott geopfert hat?“ Sich für dich, zur Versöhnung deiner Seele mit Gott, zur Reinigung deines Gewißens von todten Werken Gott geopfert hat? Was sagt dein Herz, wenn du Sein gedenkst? Wenn ER für dich betet im Himmel, wird es im Himmel Friede mit dir! Kommt nicht auch in dein Herz Friede und Ruhe, wenn du Sein gedenkst? Friede, tiefer Friede − tiefer Friede und das Bewußtsein einer unbegreiflichen Reinigung ist mein in Christo JEsu! − Darum bete ich an und will anbeten ewiglich! Ja, ich will anbeten ewiglich, wenn ich Dich schauen werde in Deiner Hütte und in Dir meine Reinigung und Heiligung, meinen ewigen Glanz, und unverwelkliche Herrlichkeit!


Am Sonntage Palmarum.
Philipper 2, 5–11.

 IN göttlicher Gestalt“ hättest Du hereinprangen können, Immanuel, in unser Jammerthal, wenn Du gewollt hättest. Wie die Sonne aus ihrem Gezelte leuchtend geht, hättest Du aus Deiner gebenedeiten Mutter Leib kommen können im Lichte und in der Weise des Menschen, der Jehova ist. Dann hätten die Berge frohlockt und die Hügel gehüpft, − die Bäume würden Dir schön geblüht und mit Händen geklappt, − das Meer würde Dir gebraust − und alle Kreaturen Dir gedient, zu Deinen Füßen sich freudenvoll gefügt haben.

 Aber Du hast nicht also gewollt! Du kamst nicht wie ein Held mit prangender Beute, Deine Herrlichkeit strahlte nicht von Dir. Du begehrtest nicht, Dich lüstete nicht nach der Kniebeugung der Erde. Du hattest des Himmels Anbetung empfangen; da Dich der Vater in die Welt einführte, haben Dich alle Engel mit Liedern gepriesen; − was konnte Deine Seele am Lobgesang des unerlösten Sünders für Gefallen tragen? Du hattest Größeres vor. Du „äußertest Dich Selbst“, legtest Deine Herrlichkeit auf der Schwelle der sichtbaren Welt nieder, wurdest uns in allen Dingen gleich (nur nicht in Sünde) − und nahmst Knechtsgestalt an. Gott − ein Knecht − aller Knechte − der Knechte der Sünde! Der Gesetzgeber zeigt den Ernst des Gesetzes, indem er die Strafen des Gesetzes selber duldet, und unaussprechliche Liebe, indem er die Schuldigen frei läßt um seiner Strafen willen! Der Richter der Welt zeigt den Ernst Seines Gerichtes an Sich Selbst, auf daß Er die nicht richten müßte, die dem Gerichte zugesprochen waren. Wie ER Knecht ist! Wie ER dient! Sieh Ihm nach, Sündenkind, von Seinem Eintritt in Jerusalem bis zu Seinem Todesgang, bis zu Seinem Tod am Kreuze! Wo ist eine Knechtsgestalt, wie Er? Ich weiß keine − und wer eine weiß außer Seiner, ich elender Sünder und mit mir meines gleichen zahllose Schaaren werden ihn verdammen an jenem Tage! Denn es gibt keine Knechtsgestalt, wie Seine! Ich rufe Pilatum, den ungerechtesten aller Richter, auf um Zeugnis, ob ich irre! Er wird mich in der Hölle nicht Lügen strafen und alle unzähligen Schaaren der Hölle nicht! Nein, es gibt keinen, wie ER war, darum gibts keinen, wie ER ist! ER ist erniedrigt wie keiner und erhöht wie

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 274. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/285&oldid=- (Version vom 14.8.2016)