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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Er alles, was kommt, voraus weiß, hätte Er alles vermeiden können. Er hätte nur nicht von Galiläa nach Judäa und Jerusalem gehen, Er hätte nur bei Jericho umwenden, bei Bethanien umkehren, nur nicht nach Gethsemane gehen, nur da noch weggehen dürfen, ehe Judas kam. Aber nein, Er weiß den ganzen Weg und Sein Ziel, Er weiß jeden Abschnitt Seines Weges, Er weiß alles und Er schrickt nicht zurück, sondern unverzagt, obwohl unter großem Grauen, vielen Aengsten und Nöthen geht Er Schritt für Schritt vorwärts Seinem Ziel entgegen. Thu deine Augen auf, sieh Ihn dulden, leiden, sterben, − lausch Ihm jedes Wort, jede Thräne, jeden Seufzer ab, − du wirst bewegt, zerknirscht, in den Staub gelegt werden über dieser Geschichte ohne Gleichen; aber du wirst auch von Schritt zu Schritt mehr erfüllt werden von Bewunderung Dessen, der all Sein Leidensmeer voraus gekannt, ja erkannt hat, aber keinen Augenblick zauderte, in dieß von Ihm selbst gefürchtete rothe Meer zu steigen. Er ist ein Held: das Meer, der Wind schweigen vor Ihm, die Teufel schreien vor Angst und Pein, wenn sie Sein gewahr werden, wovor hat Er gezittert? Und doch, es kommt für diesen Helden eine Zeit der Furcht, des Schreckens, Zitterns, Bebens, des großen Geschreis und unzählbarer Thränen. Ja, wer kann Seinen Kampf, Seine Last, Seinen Schmerz ermeßen, wem graut nicht, wenn Er weint und schreit? Aber, sag ich, Er geht unter dem Schreien, Weinen, Zittern, Beben nicht rückwärts, vorwärts geht Er: wie ein Held im Kampfe schreit, so schreit Er und ringt durch alle Seine Leiden Seinem Sieg entgegen. Beim furchtbarsten, von keiner Creatur ermeßenen Kampf eine Tapferkeit, eine Willigkeit, eine Ergebung und Hingebung in den Kampf der Leiden, in den Kampf, in diesen erkannten Kampf! Ja, das heißt seinen Lauf vollenden, seine Lebensaufgabe erfüllen: hier ist vorauswißen, wißen und thun beisammen, ja wollen und vollbringen, wie in keinem Lebenslauf. Alles wußt Er, willig that und litt Ers; Er ist ein Heiland, in deßen Wißen Seine Gottheit, in deßen Leiden Seine Menschheit, in deßen Wollen und Vollbringen Seine treue Liebe erkannt wird. Darum sagt auch St. Johannes am Anfang der Geschichte Seiner Leiden 13, 1: „Vor dem Fest der Ostern, da JEsus erkannte, daß Seine Zeit gekommen war, daß Er aus dieser Welt gienge zum Vater: wie Er hatte geliebt die Seinen, die in der Welt waren, so liebte Er sie bis ans Ende.“ Lob sei Dir ewig, o JEsu! Amen.




2. Christi Hoheit in Seinem Leiden.

 ES ist mit der Erniedrigung unsers HErrn JEsu Christi eine eigene Sache, meine theuern Brüder. Wie tief ist Er erniedrigt? Um auf diese Frage ein Weniges zur Antwort sagen zu können, sehe man nicht bloß vom Standpunkt unsrer selbstverschuldeten und angeborenen Niedrigkeit in die grausige Tiefe Seiner Leiden, denn damit bekommt man nicht den ganzen und vollen Blick; sondern man sehe auf in die ewigen Höhen und in die Herrlichkeit, welche Er bei dem Vater hatte, ehe der Welt Grund gelegt ward, − dann laße man von jenen ungemeßenen Gipfeln den schwindelnden Blick herab zu uns armen Sündern und von da weiter in die Todesthale JEsu gleiten. Dann erst wird man − nicht erkennen (denn was erkennen wir?), aber ein wenig ahnen und merken, was das heißt: „der HErr ist erniedrigt“ und wir werden Ihn schon um Seiner Erniedrigung willen anbeten, zumal Er auch wieder erhöht ist zu den ewigen Höhen. − Aus diesen Worten möget ihr, meine Freunde, erkennen, daß meine Seele die Lehre von der Erniedrigung des HErrn in tiefer Anbetung annimmt. Ich mußte aber diese Bemerkung hier vorausschicken, weil ich euch einen Eindruck der Leiden Christi auf meine Seele mittheilen möchte, welcher mir den Vorwurf zu Wege bringen könnte, als dächte ich bei Erwägung Seiner tiefsten Schmach und Pein an Ungehöriges. Ich bleibe aber im Gedächtnis Seiner Erniedrigung − und bekenne dennoch, daß ich, je länger ich lebte, beim Lesen der Leiden JEsu immer mehr von der Wahrnehmung Seiner Hoheit und Majestät erfüllt wurde. Er reitet auf einem Eselsfüllen, arm, auf Kleidern der Armen in Jerusalem ein: aber was ist das für ein Angesicht, furchtbar unter Liebeszähren, was für ein Mund, vor Erbarmen weinend und dennoch ein grausiges Schicksal

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 290. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/301&oldid=- (Version vom 8.8.2016)