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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

zu der heimlichen Weisheit, welche am wenigsten verstehen, die sie am besten kennen und verstehen sollen, nemlich die Hohenpriester und Schriftgelehrten. Die erste Frage ist die nach der himmlischen Abkunft, die andere die nach der königlichen Würde JEsu und die dritte fragt nach der Giltigkeit und Kraft Seines Opfers. Die erste wird nun vor dem geistlichen Gerichte verhandelt, die andere vor dem weltlichen Richter Pilatus, und die dritte findet sich allenthalben, wo Christus redet, handelt oder leidet, ist aber verborgen denen, deren Auge gehalten ist und deren Herz kein Bedürfnis der Erlösung hat. − Gebt Acht, meine Freunde, wir begleiten den HErrn vor das geistliche Gericht zu dem Hohenpriester Caiphas. Bei ihm sind sie versammelt, die Rathsherren und Weisen und Aeltesten Israels, − und nun wird man verhandeln. Sie sind von vorn herein schon entschloßen, den HErrn zu tödten, denn sie haben einen tödtlichen Neid und Haß gegen Ihn in ihrer Brust; aber sie können doch nicht einfach wie es ihnen ums Herz ist, über Ihn herfallen und Ihn zerfleischen. Es muß doch in Israel, wo noch Gottes Wort und Recht auf dem Leuchter ist, eine rechtliche Form des Unrechts, dazu ein Grund und eine Ursache des Todes angegeben werden. Was soll man denn sagen, wenn alle die ehemals Blinden, Lahmen, Stummen, Tauben, Kranken, Krüppel und Todten, die nun durch JEsu Hand gesund sind, und alle, welche von Seinen Reden und Predigten ergriffen wurden, anfangen zu forschen und zu fragen: „Warum habt ihr JEsum von Nazareth getödtet?“ Also wohlan, tödten will man, aber man muß eine Ursache des Todes ausfindig machen: und weil es nicht leicht ist, so müßen alle Weisen forschen − in stiller Nacht, wo der Geist regsam und erfinderisch ist. Emsig beschäftigt ist nun also der hohe Rath der Juden: ein würdiger Berathungsgegenstand hat sie zur nächtlichen Berathung versammelt. Saure Mühe, die sie haben! Es kommt ein Zeuge nach dem andern, allerlei Zeugnis wird abgelegt, aber es ist nichts, die Zeugnisse stimmen nicht, − nicht unter sich, nicht mit der allbekannten Wahrheit; es ist, wie wenn an der Person kein Schmutz haften wollte. Die Herren hätten es nie geglaubt, daß Er so rein wäre, wenn sie nicht diese Mühe übernommen hätten, Ihn zu richten. Indes ist bei den Versammlungen des hohen Rathes öfters Gottes Geist mit im Spiel gewesen, ohne daß man es wollte und wußte. Denkt an jene Versammlung, wo derselbe Caiphas, welcher gegenwärtig wieder den Vorsitz im Rathe führt, hohenpriesterlich weißagend das Wort sprach, das weit über sein Wißen und Verstehen hinausragte: „Es ist beßer, daß ein Mensch sterbe, denn das ganze Volk.“ So gehts auch jetzt. Zwei Zeugen kommen, welche aussagen, der Angeklagte habe einmal sich verlauten laßen: „Ich kann den Tempel Gottes abbrechen und in dreien Tagen wieder bauen.“ Dieß Zeugnis führt näher zum Ziele. Es ist ganz des Inhalts, um den sichs handelt, wenn auch nicht nach dem Wortlaut der Zeugen, so doch nach den wirklichen Worten JEsu, da Er sagte: „Brechet diesen Tempel, und Ich will ihn in dreien Tagen wieder bauen.“ Denn nun soll ja der Tempel gebrochen werden − und gebaut werden soll er desgleichen. Oder wenn ihr wollt, so kann man auch das Zeugnis der Zeugen nach wörtlicher Wahrheit gelten laßen; denn es bricht den Tempel des Leibes JEsu niemand, wenn nicht der Bewohner es will, − und der baut ihn auch wieder. Und doch, was soll der hohe Rath zu dem Zeugnis sagen? Schier ists, wie wenn er JEsu Sinn verstanden hätte, wie wenn er sich nicht gerne drauf eingelaßen hätte, den Tempel Seines Leibes auf die Bedingung und Aussicht hin zu brechen, daß Er Selbst ihn wieder baue. Oder ists nicht so? Wenn sie die Worte vom steinernen Tempel nahmen, konnten sie doch so gut eine Lästerung drinnen sehen, als sie später in ähnlichen Worten Stephani eine Lästerung sahen. Und wenn sie bei Stephanus die Lästerung todeswürdig fanden, konnten sie dieselbe Lästerung auch bei JEsu todeswürdig finden, zumal sie aus dem Munde JEsu drohender erklang, als aus dem Munde Stephani. Aber nein, sie trauen nicht; es ist ihnen bei dem Zeugnis nicht ganz wohl − und sie sollen den Grund zum Tode nicht nehmen, an dem sie nach Weißagung des eigenen Gewißens vielleicht gar hätten zu Schanden werden können. Wohlan! Die letzten Zeugen wollten eine Lästerung auf JEsum bringen − und vielleicht läßt sich Ihm eine Lästerung des höheren Grades Schuld geben. Dem Hohenpriester fällt bei, daß Sich der HErr so oft Gottes Sohn im Sinne der Wesensgleichheit genannt hatte, und das, denkt der Sadducäer Caiphas, ist offenbare Lästerung. Gott hat keinen wesensgleichen Sohn, auch der Messias ist kein solcher: wer so etwas

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 302. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/313&oldid=- (Version vom 8.8.2016)