Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/32

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am vierten Sonntage des Advents.

Evang. Joh. 1, 19–28.
19. Und dieß ist das Zeugnis Johannis, da die Juden sandten von Jerusalem Priester und Leviten, daß sie ihn fragten: Wer bist du? 20. Und er bekannte und leugnete nicht; und er bekannte: Ich bin nicht Christus. 21. Und sie fragten ihn: Was denn? Bist du Elias? Er sprach: Ich bins nicht. Bist du ein Prophet? Und er antwortete: Nein. 22. Da sprachen sie zu ihm: Was bist du denn? Daß wir Antwort geben denen, die uns gesandt haben. Was sagst du von dir selbst? 23. Er sprach: Ich bin eine Stimme eines Predigers in der Wüste: „Richtet den Weg des HErrn“; wie der Prophet Jesaias gesagt hat. 24. Und die gesandt waren, die waren von den Pharisäern, 25. und fragten ihn, und sprachen zu ihm: Warum taufest du denn, so du nicht Christus bist, noch Elias, noch ein Prophet? 26. Johannes antwortete ihnen und sprach: Ich taufe mit Waßer; aber er ist mitten unter euch getreten, den ihr nicht kennet. 27. Der ists, der nach mir kommen wird, welcher vor mir gewesen ist, des ich nicht werth bin, daß ich seine Schuhriemen auflöse, 28. Dieß geschah zu Bethabara, jenseit des Jordans, da Johannes taufte.

 DAs vorige Evangelium legte uns das Zeugnis JEsu von Johanne dem Täufer vor; das heutige bringt uns ein Zeugnis Johannis von JEsu. Bei dem dortigen Evangelium bemerkten wir am Schluß, daß JEsus, indem Er von Johannes Zeugnis gab, zugleich von Sich Selbst das herrlichste Zeugnis ablegte. Aehnlich finden wir in dem heutigen Evangelium, daß Johannes, aufgefordert, von sich selbst Zeugnis zu geben, eben damit die günstigste Gelegenheit bekommt, von seinem HErrn Christo zu zeugen. So geht immer mit dem Zeugnis des Menschen von sich selbst sein Zeugnis über andere Hand in Hand. Indem man sich mit andern vergleicht, lernt man sich von andern, andere von sich unterscheiden und kommt so zu jener gedoppelten Erkenntnis seiner selbst und anderer außer uns, zu jener Wahrhaftigkeit im Benehmen und Umgang mit andern, welche so nahe verwandt und fast eins ist mit Bescheidenheit und Gerechtigkeit. Möge uns das hohe Beispiel, welches unser Text zu diesem Satze liefert, dazu dienen, daß auch wir verlangend und begierig werden, uns und die Menschen um uns her richtig zu würdigen, gerecht und bescheiden zu werden.

 Unser Evangelium enthält das gedoppelte Zeugnis Johannis von sich und von JEsu. Zuerst jenes, dann dieses laßt uns betrachten. Je mehr wir von jenem zu diesem und in diesem selber vorwärts schreiten, desto mehr werden wir fühlen und erkennen, warum dieß Evangelium in der Adventszeit steht. Die Juden fragen Johannem, wie Johannes im Evangelium des vorigen Sonntags JEsum gefragt hat: „Bist dus, der da kommen soll?“ Johannes wies aber die Juden auf JEsum hin, welcher komme, bereits da sei und in nächster Zukunft sich ihnen offenbaren werde. „Er kommt, Er ist da“ − das ist der Ton, der einem nach Lesen dieses Textes im Ohre bleibt. Und wie gut paßt das in die nächste Nachbarschaft von Weihnachten, wo auch wir immer sehnlicher einander zurufen und zusingen:

Seid unverzagt, ihr habet
Die Hilfe vor der Thür;
Der eure Herzen labet
Und tröstet, steht allhier.

 Laßen wir uns aber durch die eigentliche Betrachtung des Textes in die Gedanken hineinführen, die wir angedeutet haben und die uns nun so sehr geziemen!


Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 021. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/32&oldid=- (Version vom 14.8.2016)