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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

13. Er wird gekreuzigt.
Matth. 27, 31–44.

 DA geht Er nun hin, der Seinem Vater gehorsam ist bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Kein Lamm kann geduldiger gehen, wenn es zur Schlachtbank geführt wird. Aber dennoch, wie ernst, wie selbstbewußt und groß ist das Benehmen des HErrn bei der tiefsten Niedrigkeit. Er ist so müd und matt unter der Last Seiner Leiden geworden, daß Er Sein hölzernes Kreuz nicht mehr wohl tragen kann, daß die rohen Soldaten den vom Felde heimkehrenden Simon von Cyrene zwingen müßen, Ihm Sein Kreuz nachzutragen. So geht Er denn müde und voll unbegreiflicher Schmerzen dem Golgatha, dem Hügel zu, welcher zum Richtplatz diente. Viel Volks geht mit; nahe dem HErrn gehen Weiber − wohl von den bekannten Frauen des neuen Testamentes keine; − sie bejammern und beweinen Sein Loos, sie urtheilen wie Pilatus: „es ist keine Schuld an Ihm“ und sind innerlichst betroffen, daß Er, grade Er, zum Tode gehen soll − und unter Missethätern, denn zwei rohe Sündenknechte, welche den Tod wohl verdient haben, gehen mit dem HErrn zu gleichem Loos. Der HErr hat in der Nacht, da Er verrathen war, den Trost der Theilnahme bei Seinen Jüngern gesucht und nicht gefunden: jetzt aber sucht Er keine bloß menschliche, allein auf die Erkenntnis Seiner Unschuld gegründete Theilnahme. Er weiß, was es nun gilt und was für ein Geschäft Er nun vorhat. Mit einer wunderbaren und ungebrochnen Kraft Seiner hohen gottverlobten Seele, mit einer Majestät, welche bei dem todmüden Leibe zum Erstaunen zwingt, wendet Er Sich zu den weinenden Frauen und weißagt ihnen und den Müttern der nächsten Jahrzehente und dem ganzen Jerusalem und Volke schwere Strafen. Als Er in die Stadt einzog am Palmensonntag, weinte Er über sie und ihr Loos, und als man Ihn hinausführte vor das Lager, steigert sich im Gefühl von Jerusalems erschrecklicher Schuld, Sein Mitgefühl und Seine große Liebe zur Weißagung, ja zur Drohung. Denn noch, noch jetzt und immer fort sucht Er das Heil der Stadt und Seines Volkes. Ach, es sind Seine letzten Worte an und über Jerusalems Kinder, ein Donner der Liebe und Sorge aus Seinem sterbenden Munde: aus tiefem Schweigen kamen sie und in tiefes Schweigen verlieren sie sich. Nachdem Er sie gesprochen hat, hat Er ausgeredet und karg wird Sein Mund mit Worten. Man wirft Ihn nun auf dem Golgatha nieder, man nagelt Seinen heiligen Leib ans Kreuz, auf zieht man das Kreuz und es fällt in die Grube, worin man es fest macht, − man steckt die Ueberschrift aufs Kreuz. Da hängt Er in nackter Blöße − unter Seinen Augen, während Er noch lebt, theilt man Seine Kleider und wirft das Loos um Seinen kleinen Nachlaß, um diese Kleider und um den köstlichen, ungenähten, durchaus gewobenen Rock. Kann man wohl ärmer werden? Preißgegeben allen Blicken, von niemand getröstet, verlaßen hängt Er da. Auch nicht die kleinste Bequemlichkeit, wie man sie sonst jedem Sterbenden gönnt, ist Ihm übrig, − ach, und was redet man von Bequemlichkeit, Seine Wunden bluten und schmerzen und Sein ganzer Leib ist voll Todesmüdigkeit: − und erst beginnt Sein Leiden, sechs lange Stunden hat Er zu durchleben, bis Sein Haupt die Brust zum Ruhekißen sucht. Auch ist Er nicht bloß leidend am Leibe: o Seiner wartet Kränkung ohne Zahl und Spott und Hohn. Oder achtet Seine heilige Seele die Pfeile von Feindeszungen nicht? Meinst du, Er sei stumpf worden vor lauter Leibesschmerz gegen alle Verhöhnung der Menschen? Wo hast du ein Zeichen, daß Er Seine Seele vom Leid umgarnen läßt? Er wacht, Er läßt keinerlei Betäubung zu. Wie Er den betäubenden Essig abwehrt, so wehrt Er alle Betäubung ab. Alle Pfeile empfängt Er in eine weiche Brust; Er ist leidensempfänglich, denn Er ist zu Leiden gemacht. Nun höre, was man Ihm Gallenbitteres nicht zu schmecken, aber zu hören gibt! Da gehen sie vor Ihm vorüber, diese Juden, − da kommen und wandeln und spazieren vor dem Kreuze die Hohenpriester, die durch Umgang mit den heiligsten Geschäften roh und stolz und hart geworden sind, unnatürlich hart und grausam, − da kommen die Schriftgelehrten und die Aeltesten und freuen sich ihres großen Erfolges. Die einen rufen Ihm zu: „der

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 313. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/324&oldid=- (Version vom 8.8.2016)