Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/326

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 Als Er ans Kreuz genagelt war, als das Kreuz emporgezogen wurde, als es in die Grube fiel, in welcher es feststehen sollte, als Seine Wunden vom Stoße rißen und Sein Blut reichlicher floß, als Schmerzen ohne Zahl Seinen müden, zarten, der Sünde, wie des Schmerzes ungewohnten Leib durchzogen, und Er Selbst, als unser Hoherpriester, Sich Gott für unsre Sünden am Stamme des Kreuzes opferte, da rief Er laut und mächtig Sein hohenpriesterlich fürbittendes Wort: „Vater, vergib ihnen; sie wißen nicht, was sie thun.“ Sie wußtens nicht, denn sie erkanntens nicht. Sie hätten es zum Theil wohl wißen können, denn Er hatte viel geredet, was ihnen die Augen hätte öffnen können. Es war eine verschuldete Unwißenheit, aber eben doch eine Unwißenheit, eine grauenvolle Unwißenheit, aber doch Unwißenheit. Sie tödteten ihren wahrhaftigen, seit Jahrtausenden verheißenen König, ihren Messias, ihrer Väter Hoffnung, auf welche sie auch selbst gewartet hatten. Sie tödteten ihren Hohenpriester, − ihr Passahlamm, − Gottes Sohn. Das thun sie, wißens und glauben es nicht. Aber JEsus weiß es − und während Er mit Schmach und Schmerz bedeckt am Kreuze hieng, denkt Er doch nicht an Sich, nicht an Seine Noth, sondern hohenpriesterlich an die Verschuldung derer, die Ihn ans Kreuz hängten. Die Leiden, welche Ach und Wehe über die Menschen rufen, verwandelt Er durch Seine willige Ergebung und durch Seine geheimnisvolle Aufopferung zu Versöhnungsleiden − und zu einer Ursache, um derenwillen Seine Bitte Erhörung finden soll. Im Schmucke der Schmach und Schande, des Schmerzes und der Pein, welche Er erduldet, tritt Er vor den Vater und begehrt eben um ihretwillen von dem Vater im Himmel Gnade und Vergebung für alle die unwißenden Sünder, die Ihm solches angethan haben. Und der Vater im Himmel, der in Eintracht mit Ihm Selbst, dem Sohne, die Leiden, die Ihm Menschen anthun, als Versöhnungsleiden annahm, erhörte auch, wie der Pfingsttag und die reiche Aernte aus den Juden beweist. Denn für die große, schwere Schuld − und in Anbetracht des Geschreis: „Sein Blut komm über uns und unsre Kinder“ ist und bleibt die erste Gemeinde zu Jerusalem, ihre Zahl und Beschaffenheit, eitel glänzende Erhörung der Fürbitte JEsu und wird nicht aufgewogen durch die Blindheit, welche der Mehrzahl der Juden zu Theil geworden ist. − In diesem ersten Worte vom Kreuze sehen wir also JEsum als fürbittenden Hohenpriester. In dem zweiten werden wir Ihn als mächtig rettenden König des Himmelreichs schauen.

.

 Als der HErr am Kreuze hieng und Sein erstes Wort gerufen hatte, darauf fast niemand achtete, sondern allein Gottes Ohr und Herz, dem es vermeint war, ergoß sich die Menge der Anwesenden in Spott und Hohn. Auch ein Schächer spottete; dem andern aber wendete der HErr das Herz. Mit Seiner treuen Hand und zum Beweis, daß Er in Seinem ersten Wort erhört ist, greift Er unter die Menge und holt Sich eine Seele zur Beute heraus. Einer der Schächer spricht spottend: „Wenn Du Christus bist, so hilf Dir und uns.“ Der andere aber strafte ihn und sprach: „Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist. Und zwar wir sind billig darin, denn wir empfahen, was unsre Thaten werth sind; Dieser aber hat nichts Ungeschicktes gehandelt.“ Und zu JEsu sprach er: „HErr, gedenke an mich, wenn Du in Dein Reich kommst.“ Der Schächer ist in der heiligen Schrift das einzige Beispiel, daß sich ein Mensch in Todesnoth bekehrt, das einzige − damit Beweis genug, daß es auch noch möglich ist, sich im Sterben zu bekehren, aber eben damit auch Warnung genug, daß sich niemand auf diese Möglichkeit verlaße und deshalb die Bekehrung aufschiebe. Ein einziges Beispiel ist der Schächer in dem angegebenen Sinn, aber auch noch in einem andern Sinn einzig, nemlich köstlich und herrlich ist dieß Beispiel. Gewis ist dieser Schächer in seinem Sterben aus Gnaden, allein aus Gnaden selig geworden, aber er ist auch aus Gnaden heilig geworden; der ihm geschenkte seligmachende Glaube hat schnell süße Früchte der edelsten Art getragen und zur Reife gebracht. Kein Mensch ist um das Kreuz Christi, der seine eigne Sünde bekennete: dieser Schächer bekennt sie. Keiner sonst straft den andern für den Hohn und Spott, der auf Christum gehäuft wird; aber der Schächer straft seinen Genoßen: da hieß es, wenn diese alle schweigen, wenn kein Mensch Buße predigt, so müßen die Steine schreien, d. i. so muß der Schächer schreien. Kein Mensch naht sich nunmehr JEsu freundlich, der Schächer naht sich anbetend. Andere sehen in JEsu einen Untergehenden, dieser Schächer erkennt in Ihm einen König, der trotz des Todes ewig lebt, der wieder kommen

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 315. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/326&oldid=- (Version vom 8.8.2016)