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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

wird in Herrlichkeit und Gnade und ewiges Erbarmen austheilen kann. Denn er sagt: „Gedenke an mich, wenn Du in Dein Reich kommst“ oder eigentlich, wenn Du in Deinem Reiche kommst. Was für ein Licht, für eine Erkenntnis, was für einen Glauben, was für eine Hoffnung hat dieser Schächer, der auch weiß, daß er, seine Seele nicht zu ertödten ist, sondern eine ewige Zukunft hat, der es auch nicht bloß weiß, sondern für sie betend sorgt! Dieser Schächer ist nicht ein Verlorener, sondern ein Gewonnener, − ein Sünder und Schächer und doch ein Heiliger − und ein Held, denn er wagt, mitten unter der spottenden Schaar, trotz Hohenpriester und Kriegsknechten, die ihn desto baß plagen konnten, zu rufen, zu predigen und anzubeten. In ihm können sich zur Stunde, da er so redet und thut, Apostel spiegeln und durch ihn beschämt werden. − Er aber wird nicht beschämt. Der HErr nimmt seine Bitte an. Nicht wie ein Gottesarmer, sondern wie ein König und allmächtiger Sohn Gottes, wie der HErr HErr, der vom Tod errettet, wendet dieser sterbende JEsus Sein Antlitz dem Schächer zur Seite und spricht: „Heute sollst du mit Mir im Paradiese sein.“ Also geht Er Selbst ins Paradies, also kann Er über den Eingang ins Paradies und über das Paradies selbst schalten, also ist Er nicht so müde, daß Er an Sich, an Seinem Werk, Seinem Sieg, an Seinem göttlichen Wesen zweifeln müßte. Also ist Er zwar in schwerster Arbeit, leidend, wie wir es nicht faßen, aber innerlich nicht muthlos, nicht überwunden, nicht gebrochen, sondern Er geht festen Schrittes vorwärts und weiß, daß alles werden wird, wie Er und Sein Vater es durch Seinen Tod machen wollten. Wie mächtig muß schon des Schächers Stimme geschallt haben unter dem unartigen Geschlecht, − und wie groß und hehr JEsu Stimme! Wie mag sie dem spottenden Haufen in die Seele gedrungen sein und ihr Gewißen mit banger Sorge aufgeregt haben. Also demüthigte Ihn ihr Spott nicht, also war Er noch am Kreuze, wie vor dem geistlichen und weltlichen Gerichte! Er könnte also Seinen Tempel, nemlich den Seines Leibes wieder bauen, − Er könnte irgend wie doch vom Kreuz, aus dem Tode kommen, Christus sein und Gottes Sohn! Denn wer sterbend das Paradies austheilt und das Wort: „hilf Dir Selbst und uns“ so beantworten kann, wie Christus in Seinem Wort an den bußfertigen Schächer, der könnte wohl auch noch zu fürchten sein, wenn ihm die Augen brechen. −

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 Hilfreich für Schächer und bußfertige Sünder ist der HErr. Aber sieh, unter Seinem Kreuze steht eine Schmerzenreiche, Seine Mutter, − und der Jünger, der im Abendmahle an Seiner Brust gelegen war, Johannes. Ob Seine Mutter an dem Siegesgang ihres JEsus zweifelte, ob auch über sie ein Verzagen gekommen war, oder ob sie vielleicht nur mütterlich mit Ihm fühlte, vielleicht tiefer als andere in die Natur Seiner Leiden, Seiner Versöhnungsleiden und Aufopferung eingedrungen war und eben deshalb desto tiefer, wenn auch keineswegs ohne Hoffnung litt? Sie hörte das zum Schächer gesprochene Trostwort, − wird sies nicht geglaubt haben, wird die Hoheit und Würde ihres sterbenden Heilandes von ihr nicht erkannt worden sein? − Dieß Weib, diese Jungfrau ist in ihrem Verhältnis zu JEsu und in ihren Lebenserfahrungen so einzig und ohne Gleichen, daß man geneigt wird, ihr Licht und Glauben wie dem Schächer, Hoffnung und Siegesgewisheit zuzutrauen, trotz dem daß nun das Schwert Simeonis in ihre Seele drang. Denn dieß Schwert drang in sie. Sie wußte, JEsus geht von ihr − nun kann sie Ihm nicht mehr wie bisher folgen; auch wenn Er siegt, sie wird verlaßen. Darum ist sie so voll Weh und Leid, voll Thränen und Klagen. Sie kann nicht reden, Ihn nicht trösten, Ihm nicht laut die Ehre geben, aber sie bedarf Seiner Barmherzigkeit und Gnade wie der Schächer. Wer weiß, wie sie nach einem Wort von Seinem Munde gehungert hat, als sie die Worte des HErrn an den Schächer hörte! Sieh, da kehrt sich Sein Auge zu ihrem suchenden Auge und mit jener kindlichen Liebe, die niemand in ihrem Verhältnis zu Seiner ewigen Majestät faßen kann, die Ihm allein eigen ist, spricht Er ihr zu: „Weib, siehe, das ist dein Sohn“ − und zum Jünger: „Siehe, das ist deine Mutter.“ Auch bei diesen Worten vereint sich Majestät mit Liebe; wie über das Paradies, gebietet Er über Mutterschaft und Kindesliebe. So wurde keine Mutter jemals versorgt. So wurde kein Jünger geehrt, wie Johannes der ein Vertreter JEsu in Seinen kindlichen Pflichten wurde. Aber nichts desto weniger fernt Er doch die Mutter vom Herzen. Konnte Er nicht, da Er ewig lebte und auferstund, auch Sohn bleiben, wie bisher? Warum setzt Er einen andern Sohn, da Er Selbst ewig

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 316. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/327&oldid=- (Version vom 8.8.2016)