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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

lebt? Antwort: die Mutter bleibt im sterblichen Leben, darum braucht sie einen noch sterblichen Versorger; Er geht in ein unsterbliches Leben, darum kann Er der Mutter Versorger nicht mehr sein. Das muß Maria lernen, es gibt also für sie jedenfalls ein Sterben, − Er stirbt nicht, aber Er wird zu einem ganz neuen Verhältnis ausgeboren, so daß Er sie, sie Ihn nicht mehr nach dem Fleische kennen kann und darf. − Darum sagte ich, auch in diesem Worte vereine sich Majestät und Erbarmen. Je länger, je lieber wird Marien das heilige Wort vom Kreuze geworden sein; je länger, je mehr wird sie die Liebe erkannt und erfahren haben, die darin lag, wenn es ihr auch anfangs schwer wurde. − Wir aber verehren unsern HErrn, der den Schächern ein König und Seiner Mutter ein treuer Versorger wurde auch am Kreuze, − der über der Heilandsarbeit und über Seiner erlösenden Liebe zum Schächer − und über Seinen Leiden die Mutter nicht vergaß, der sie nach Seiner Liebe noch weniger vergeßen konnte, als ein Weib den Sohn ihres Leibes vergißt.




15.

 NOch haben wir vier von den letzten Worten des HErrn zu betrachten, von denen je zwei und zwei in inniger Beziehung zu einander stehen. Allen zusammen gieng jene wunderbare Finsternis voran, welche den Astronomen nicht weniger vergebliche Bemühung gemacht hat, als der Stern der Weisen. Was man auch in älterer und neuerer Zeit versucht hat, die Finsternis des Charfreitags aus natürlichen Ursachen zu erklären, es hat sich doch nichts auffinden laßen, wodurch man das große Wunder zu einem bloß unter der Hand der göttlichen Vorsehung geordneten Zusammentreffen natürlicher Umstände hätte umstempeln können. Die Finsternis hier, wie in der Todes- und Auferstehungsstunde das Leben der Erde, ist rein die Feier, mit welcher die Natur die Vorgänge jener wichtigsten aller Stunden harmonisch begleitete. Die Sonne verliert den Schein − Finsternis legt sich über das heilige Land, denn unsre Sonne wird am Kreuz verfinstert und während die Nacht am Mittag eintritt, treffen die Pfeile, die am Mittag fliegen, die Seele des Erlösers desto grausamer. Das Leiden des HErrn kommt in dieser Finsternis auf seine Höhe. Hier ist es nicht, wie in der Nacht vorher, da Er in Gethsemane Blut schwitzte: in Gethsemane stand der HErr in lebendiger Wechselbeziehung mit Seinem Vater. Hier aber wird Seine Verlaßenheit und Seine einsame Arbeit viel stärker. Auch kein schlafender Jünger ist bei Ihm; oder ja, Johannes und die theure Mutter sind da; aber was helfen die Trostlosen dem HErrn in Seinen hohen Anfechtungen? Er hilft ihnen, wie die Worte vorher zeigten, noch vom Kreuze: Ihm hilft niemand. Vielleicht legte sich während der Finsternis der Spott und Hohn, vielleicht schauerte doch auch den Feinden die Haut und das innerste Mark; vielleicht war es ganz still in der Finsternis ums Kreuz her. Aber diese Stille war nicht erquicklicher, als das Geräusch. Im Gegentheil, das Grauen einer Nacht kam über den HErrn am Mittag, wie sie nie einmal zur natürlichen Zeit über die Erde gekommen war. Leiden am Licht der Sonnen ist an und für sich leichter, als Leiden in der Finsternis. Licht ist wie Gottesnähe, aber Finsternis deutet auf Gottverlaßenheit. Und das wars nun eben, was über den HErrn kam, Gottverlaßenheit. Kein Engel kam, auch die Engel zogen sich anbetend vor dem Werk zurück, an welchem der Erlöser nun arbeitete, − und der Vater Selbst entriß Sich Seinem Sohne, auf daß Er für alle Welt schmeckte, was Qual der Hölle, was Gottverlaßenheit ist. Gottverlaßenheit: wißen die Teufel, die sie ewig fühlen, was sie ist? Können sie den Grabstein schauen und begreifen, der sie ewig, ewig niederdrückt? Wiß es, wer kann; für mich weiß und erfuhr es einer, der mich durch sein Erfahren vor der Erfahrung behütet hat, welche mir einen ewigen Tod unabweisbar gebracht hätte. Ich weiß nicht, was das ist, Gottverlaßenheit, will und mag es nicht wißen. Ich weiß nur, daß das Höllenqual ist, daß also der HErr vom Mittag bis gegen drei Uhr Höllenqualen fühlte. Ich weiß nicht, was im Himmel und in der Seele des Erlösers vorgieng, um Gottverlaßenheit zu wirken;

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 317. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/328&oldid=- (Version vom 8.8.2016)