Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/329

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

aber mich schaudert vor dem Gedanken − und ein nächtlich Grauen geht über meine Seele, wie über die Natur in jenen Stunden. Hier sehe ich, daß es eine vollkommene Wahrheit ist mit der Lehre St. Pauli und Luthers von dem stellvertretenden Büßen JEsu. Wer es hier nicht sieht, ist blinder als jene Nacht, die den Gekreuzigten umfieng. Ich sehe es und ich weiß die Antwort auf die Frage des Verlaßenen, der nicht verließ Den, der Ihn verließ, − ich weiß die Antwort auf das vierte Wort vom Kreuze, auf die Frage: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du Mich verlaßen?“ − Warum? Warum bist Du ein Bürge worden, ein Schuldbüßer für diese Juden, für diese Kriegsknechte, für Deine undankbarsten Beleidiger und für meine Väter und mich und meine Kinder? Du fragst warum, aber du weißt die Antwort, und deine Frage ist nicht eine Frage der Unwißenheit, sondern des Erstaunens. Du hast es je und je gewußt, was für finstre Stunden kommen würden; darum war Dir so bange; aber Dein Arm hilft Dir und Dein durchbohrter Fuß zaudert nicht. Drei Fuße gehst Du durch diese Thale des ewigen Todes − aber nun ist Dein Gang zu Ende und über ein Kleines, so scheint Deine Sonne, das Angesicht Deines Vaters wieder hell! −

 Ich habe gesagt, daß zwei und zwei von den vier letzten Worten JEsu in inniger Beziehung zu einander stehen. Das Wort, welches auf die Frage um die Ursache der Gottverlaßenheit kommt, heißt: „Mich dürstet.“ Wie steht das mit dem vorausgehenden Worte in Verbindung? − Die Seelenqual des HErrn stieg mit dem dreistündigen Gefühl der Gottverlaßenheit auf den höchsten Gipfel. Ehe der HErr zu diesem Kampfe gieng, versorgte Er noch Seine Mutter und schloß mit allem irdischen Wesen ab. Völlig los von allem andern gieng Er in den finstern Kampf um Sein höchstes Gut, die Liebe und den Frieden Seines Vaters für Sich − und für uns. Beispielloser, über alles Ahnen der Menschen hinaus greifender Kampf, den ohne Offenbarung die Sonne fühlen, aber kein Geist begreifen oder faßen konnte. Nun ist dieser Kampf siegreich vollendet, − und JEsus „wußte nun, wie St. Johannes 19, 28. sagt, daß schon alles vollbracht war, daß die Schrift erfüllet würde.“ Nun konnte Er die Macht brauchen, die Er hatte, Sein Leben zu laßen, − Er konnte Seine Seele von Leibes, des gequälten Leibes Banden lösen. Aber Er fühlt ein brennendes Weh des Leibes, Durst, lechzender Durst, den Er vor dem Scheiden stillen und nicht in den letzten Augenblick hinein mitnehmen will, verzehrt Sein Gebein. Wie das Wort „Warum hast Du Mich verlaßen“ die höchste Höhe und größte Tiefe Seiner Seelenleiden andeutet, so deutet das Wort: „Mich dürstet“ auf den Gipfelpunkt aller Seiner Leibesqualen. Er hängt nun mit brennenden Wunden sechs Stunden am Kreuze, all Sein Blut ist ausgeschüttet, Sein Leib ist vertrocknet, wie eine Scherbe, all Seine Gebeine kann Er zählen, quälendes Fieber, heiß und weh, peinigt Seinen Leib, − und die Qual der Seele, die Gottverlaßenheit, hat Seinem Leibesleiden den Beitrag gethan, durch welchen es unerträglich wurde. Ach, was sag, was schwatz ich, − unerträglich war Dein Weh, o JEsu, schon zuvor, schon ohne Deine innere Qual, aber Deine innere und Deine äußere Qual dauerten drei Stunden zugleich. Was Wunder, wenn Dein Leibesschmerz aufs Höchste stieg und Verschmachten und Verzehren sich Deiner müden Brust, Deines Halses bemeistern wollte. Heftige innere Bewegung trocknet auch dem Gesunden Stimm und Kehle aus und erregt das Verlangen nach Waßer. Wie konnte es bei Dir anders sein, o JEsu, der Du von großem Verlangen unsers Heiles in den heißen Seelenkampf der Gottverlaßenheit giengst? „Mich dürstet“ − ruft auf der Höhe Seiner letzten Leibesleiden der HErr. Ja, Dich dürstet! Gedenke mein, wenn ich dürsten werde! Gedenke mein, wenn mich meiner Sünden Ahndung und Deine heiße prüfende Hand in die Leiden meines letzten Durstes einsenken wird! Der Du gedürstet hast, wie keiner, gedenke meiner! – – –

 Als der HErr mit dem elenden Essig der Missethäter, unter Hohn und Spott der Wache getränkt war, ruft Er aus − mit lauter Stimme, wie ein Löwe, der des Sieges gewis ist und den Tod erwürgen will, wie ein Held, der mit lautem Geschrei seinen Feind zum tödtlichen Kampfe faßt: „Es ist vollbracht! − Vater, in Deine Hände befehle Ich Meinen Geist!“ Zwei Worte, von denen jenes, obwohl die ganze Lebens- und Leidenszeit abschließend, doch auch in diese Augenblicke hereinragt, − von denen dieses, obwohl von einer nahen Zukunft des Abscheidens und Heimgehens redend, doch auch jetzt schon, in dem Augenblick, da es gesagt wird, volle Wahrheit

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 318. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/329&oldid=- (Version vom 8.8.2016)