Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/35

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 Diese Antwort scheint freilich für die Frage und Erwartung der Juden zu gering. Nur Christus, nur der wieder erwartete Elias, nur der Prophet, welcher vor Christo kommen sollte, hatte ihrer Meinung nach die Berechtigung zu taufen. Den Titel „Stimme eines Predigers in der Wüste“, fanden sie für den hohen Beruf zu taufen zu unbedeutend. Das macht, sie erkannten eben doch nicht die Herrlichkeit und Majestät Deßen, der da kommen sollte, begehrten sie auch nicht zu erkennen: darum sahen sie nicht, was für eine große Würde es war, eine solche Predigerstimme vor Ihm her, und zwar unmittelbar vor Ihm her zu sein. Es fehlte ihnen an Adventserkenntnis, Adventserwartung und Adventsgefühl. Deshalb gehen sie so enttäuscht von hinnen, so herabgesunken von dem, was sie erwartet hatten. Johannes selber fühlte aber ganz anders. Er war durch sein Bekenntnis in seinen Augen nicht kleiner geworden, war auch nicht klein; Ihm däuchte es nicht etwas geringes, ein Diener und eine Botenstimme des HErrn zu sein und dicht vor Ihm her zu laufen; denn er kannte diesen HErrn, wußte, wie nahe Er war, und glaubte an Ihn. Er sah in seiner eigenen Person im Grunde nichts weniger, als Christus im vorigen Evangelium in ihr gesehen und von ihr gepredigt hatte: erkannte er sich doch als die Stimme „Richtet den Weg“ vor Ihm her, also doch jeden Falls als Boten und Engel, der Ihm den Weg bereiten sollte, als den Nächsten bei Ihm, weil er der Nächste vor Ihm war.

 Liebe Brüder! Wir erkennen in Johanne vor allem eine leuchtende Wahrhaftigkeit  − und sein Beispiel zeigt uns, daß Wahrhaftigkeit eine Mutter großer Tugenden ist. Ja, wer nur eins im Leben erreichen würde, wahrhaftig zu sein, wie Johannes, der würde in der That ein Ziel erreicht haben, an dem er einen leuchtenden Kranz vieler Tugenden fände. Oder ist es nicht so? Johannes ist wahrhaftig, damit ist er − daß ich nur einiges nenne − gerecht, damit ist er bescheiden, damit ist er demüthig. Er ist gerecht, indem er einem jeden − sich, den Propheten, dem HErrn läßt und gibt, was ihnen ziemt. Er ist bescheiden, indem er sich seines Maßes gegen jedermann bescheidet. Er ist demüthig, indem er sich vor seinem HErrn neigt. Wahrheit in Gerechtigkeit, Wahrheit in Bescheidenheit, Wahrheit in Demuth − welch ein Glanz, welch ein Reichtum von Mannestugend ist Johannes in der Wahrhaftigkeit gegeben!


 Doch wollen wir seine Demuth noch insbesondere kennen lernen, indem wir sein Zeugnis von JEsu betrachten.

 Sich selbst recht zu erkennen, ist schwer. Zwar wird es in manchen Fällen leicht, einzusehen, was man nicht ist; in den meisten Fällen aber bleibt uns, was wir nicht sind, lebenslang verborgen. Ach wie manches schreibt sich der Mensch zu, was ihn die zurückhaltende Schaar seiner Freunde nur mit schweigendem und bedauerndem Lächeln von sich rühmen, sagen oder voraussetzen läßt! Wie schwer ist es also, nur die erste Stufe der Selbsterkenntnis zu erreichen, welche doch die leichtere ist. Und nun erst die zweite, zu erkennen, was man ist. Wie unglückselig wäre der Mensch, wenn seine ganze Selbsterkenntnis nur in der Erkenntnis deßen bestände, was er nicht ist! Es muß doch jeder auch etwas sein, was er erkennen, deßen er froh werden darf und soll. Ohne die Erkenntnis deßen, was wir von Gottes Gnaden sind, würde uns ja die Erkenntnis deßen, was wir nicht sind, zu Boden drücken. Und doch ist es in der That sehr schwer, mit sicherem Auge zu erspähen und fest zu halten, was man ist. Wie wenige mögen wol im Leben sein, die da wißen, was sie von Gottes Gnaden in der Welt sein können, sein sollen oder sind! Wie viele dagegen, die bloß darum des Lebens weder satt noch froh werden können, weil sie beides nicht wißen − was sie nicht sind und was sie sind! − Wie schwer ist es also, zur Erkenntnis seiner selbst zu kommen! Ohne Vergleich schwerer ist und bleibt aber dennoch die Erkenntnis Gottes unsers HErrn. In der Selbsterkenntnis haben auch Heiden ein gewisses Maß erreicht: was aber außer seiner ewigen Kraft und Gottheit konnten je Heiden von Gott erkennen, − und wie viel geringer, sogar als sie hätte sein können, war insgemein die Gotteserkenntnis der Heiden! Gott, Sein Sohn und Geist war ihnen verborgen, bis sie Theil bekamen an der Offenbarung des neuen Testamentes. Die Erkenntnis Gottes ist darum doch das erste Zeichen und der erste Beweis von der Nähe Gottes, − und je größer ein Mensch ist in der Erkenntnis Gottes, desto näher ist er Gott und Gott ihm, desto mehr ragt er über andere hervor.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 024. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/35&oldid=- (Version vom 14.8.2016)