Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/350

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

die Hoffnung, Gott vollkommener zu erkennen, zu schauen, nicht ergreifen, beleben und eifrig machen könnte. Ists aber anders, begehret ihr zum Anschauen des dreieinigen Gottes zu kommen; so achtet eure Wiedergeburt und laßet sie in euch erneuen. Nur die Wiedergeburt, − ich wiederhole, − nur das Wachstum des neugeborenen Menschen in uns verleiht uns Aug und Vermögen, die Herrlichkeit des HErrn im Himmel zu schauen; nur das befähigt uns einzutreten in die seligen Chöre der Engel und Auserwählten, die ohn Ende singen: „Heilig, heilig, heilig ist Gott, der HErr Zebaoth!“ − So helf uns denn Er Selbst, der allein alles vermag und dem alleine gebührt Ehre, Lob und Dank! Er laße uns nur nicht, bis wir, erneut im heiligen Geiste, angethan mit den weißen Kleidern unserer Taufe, zu Seinem Throne und Seinem Anschauen kommen! Amen.




Am ersten Sonntage nach Trinitatis.

Evang. Luc. 16, 19–31.
19. Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und köstliche Leinwand, und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. 20. Es war aber ein Armer, mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Thür voller Schwären. 21. Und begehrte sich zu sättigen von den Brosamen, die von des Reichen Tische fielen; doch kamen die Hunde und leckten ihm seine Schwären. 22. Es begab sich aber, daß der Arme starb und ward getragen von den Engeln in Abrahams Schooß. Der Reiche aber starb auch, und ward begraben. 23. Als er nun in der Hölle und in der Qual war, hub er seine Augen auf und sahe Abraham von ferne und Lazarum in seinem Schooß, 24. rief und sprach: Vater Abraham, erbarme dich meiner, und sende Lazarum, daß er das Aeußerste seines Fingers ins Waßer tauche und kühle meine Zunge; denn ich leide Pein in dieser Flamme. 25. Abraham aber sprach: Gedenke, Sohn, daß du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, und Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun aber wird er getröstet und du wirst gepeiniget. 26. Und über das Alles ist zwischen uns und euch eine große Kluft befestiget, daß die da wollten von hinnen hinab fahren zu euch, können nicht und auch nicht von dannen zu uns herüber fahren. 27. Da sprach er: So bitte ich dich, Vater, daß du ihn sendest in meines Vaters Haus; 28. Denn ich habe noch fünf Brüder, daß er ihnen bezeuge, auf daß sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual. 29. Abraham sprach zu ihm: Sie haben Mosen und die Propheten; laß sie dieselbigen hören. 30. Er aber sprach: Nein, Vater Abraham; sondern wenn einer von den Todten zu ihnen gienge, so würden sie Buße thun. 31. Er sprach zu ihm: Hören sie Mosen und die Propheten nicht, so werden sie auch nicht glauben, ob jemand von den Todten auferstünde.

 ALle Offenbarungen Gottes in Christo JEsu sind uns nun seit Advent gezeigt und gepredigt worden. Das Evangelium des heutigen Sonntags öffnet uns den Blick in die Ewigkeit und gibt uns den Beweis, daß alle Offenbarungen Gottes nichts anderes als unser ewiges Heil beabsichtigen, daß ewig wohl geschieht dem Menschen, der ihrer in seinem hiesigen Leben achtet, und ewig wehe dem, welcher sie verachtet. − Was uns in solcher Absicht unser Text erzählt, wurde von vielen als ein Gleichnis angesehen, obschon gar kein Vergleichungspunkt und kein einziger Umstand da ist, welcher diese Ansicht rechtfertigte. Gewis ist es nichts anders, als eine Geschichte, mitgetheilt von dem, der da weiß, wie es im Himmel und wie es in der Hölle hergeht, − reich an Lehre für uns alle und an Blicken hinein ins Leben der abgeschiedenen Seelen. Gewis, wenn wir über das Leben nach dem Tode weiter gar nichts hätten, als diese eine Geschichte, so würde es schon eine Lüge sein zu sagen, daß uns Gott unsere ewige Zukunft verhülle, daß man über das Land der Todten keinen Bescheid habe.

 Es ist nicht möglich, daß man im kurzen Zeitraum einer halben Stunde den vollen Inhalt dieses Evangeliums darlege. Ich hoffe aber, es werde euch

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 011. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/350&oldid=- (Version vom 1.8.2018)