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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Sein Leben liegt vor ihm wie ein fertiges und aufgeschlagenes Buch, seine Schuld wird ihm klar; was ihn zur Verdammnis geführt hat, erkennt er im Lichte, und es durchdringt ihn seine Reue und seine Strafe dermaßen in der innersten Seele, daß er keinem Menschen sein Loos gönnt und jegliche Gesellschaft, so viel an ihm ist, abwehrt. Bei all der hellen Einsicht bleibt aber eins merkwürdig. Gleichwie er selbst den Lebensweg verfehlt hat, weiß er ihn auch für seine Brüder nicht. Von der Religion, die mit Gott vereinigt, weiß er dort nicht mehr als hier. So gar nicht wird ihm, dem Unwißenden, beim Eingang in die Ewigkeit der Weg des Friedens bekannt gemacht, daß er ihn vielmehr erst aus dem Munde Abrahams vernimmt, nachdem er schon hoffnungslos in der Qual ist. Daraus können sich diejenigen unterweisen, welche in Hoffnung zukünftiger Erfahrungen in der Ewigkeit es hier auf Erden mit der Erkenntnis der Wahrheit nicht genau nehmen. Hier ist der Ort, wo alle heilsame, seligmachende Wahrheit ihren Anfang nehmen muß. Wer hier nicht den Anfang macht, zum ewigen Leben weise zu werden, wird auch dort weder Weisheit noch Leben erlangen, und alle Erkenntnis, welche er dort erlangt, wird nur die Reue und den Jammer über den Misbrauch der Zeit vermehren. Es wird gehen, wie wir singen: „Wer seiner Seelen Heut verträumet, der hat die Ewigkeit versäumet“.


 7. Schon am Anfang dieser kurzen Reden über das Seelenleben im Jenseits war davon die Rede, daß manche außer Paradies und Ort der Qual noch einen dritten Ort lehren, in welchem die hier bis zum Tode schwankenden und unbekehrt Gebliebenen Unterweisung und Hoffnung fänden. Es wurde dagegen auf die Abwesenheit eines solchen dritten Ortes in unserem Texte hingezeigt. Wohl aber könnte man, wenn man wollte, doch auf einen dritten Ort hindeuten, nemlich auf die Kluft zwischen dem Paradiese und dem Orte der Qual. Ein dritter Ort ist die Kluft allerdings, aber von ganz anderer Art als jener erträumte dritte Ort derjenigen, welche ihres Herzens unheilige, ungerechte Liebe gerne möchten schalten laßen, wo Gottes heilige, gerechte Liebe längst alles für immer geordnet hat. Der erträumte dritte Ort ist ein Ort, der, nicht Paradies, nicht Qual, ein Vorhof beider genannt werden kann; ein Ort der Entscheidung, in welchem es wimmelt. Die Kluft ist ein unbewohnter, leerer, grausiger Ort, über welchen keine Brücke, kein Schiff, kein Flug führt, rein erbaut, um Selige und Unselige von einander ewig zu trennen; sie ist ein gewaltiges Zeugnis des allerhöchsten Gottes für die Unabänderlichkeit des einmal gefallenen ewigen Looses. Bis zum letzten Hauche geht die Gnadenfrist; jede Stunde bis zum Tode kann im allgemeinen eine Gnadenstunde genannt werden. Niemand kann und darf die Gnadenfrist verengern oder verkürzen. Aber mit dem letzten Hauche dieses Lebens verweht auch der letzte Augenblick der Gnaden. Von ihm geht jeder unwiderruflich seinen Weg, und die hier nicht zusammengehen, gehen nie mehr zusammen. Wer ins Leben eingeht, hat ewig ausgeweint; und wer zu der Höllen Pforten kommt, liest eine Aufschrift: „Die ihr hier eingehet, laßet alles Hoffen.“


 8. Ist nun das Loos eines Gottlosen entschieden, so wäre eine Art von Trost darin zu suchen, wenn er sich in dasselbe zu ergeben vermöchte. Aber auch dieser letzte Trost „Ergebung“ ist in der Hölle nicht. Dort hat man Erkenntnis des Beßeren, man sieht die Seligen in ihrer Herrlichkeit und ihrem Glück, man wird dran inne, was man entbehrt, man leidet innerlich den ungeheuern Schmerz einer hoffnungslosen Reue und der verscherzten Seligkeit und äußerlich des Feuers Pein. Nur ein wenig Hoffnung, und die Hölle wäre nicht mehr Hölle. Aber es ist gar keine Hoffnung und doch ein ewiges Sehnen. Wer dies recht bedenkt − und sich gegenüber die sichere, stolze, unsterbliche Ruhe der erlösten Seelen in der himmlischen Stadt denkt, der könnte wohl erschrecken vor der ihm vielleicht ganz nahen letzten Stunde auf Erden. Er könnte es und sollte es auch, und sollte sich aufraffen, alles stehen und liegen laßen und vor allem sich die Frage lösen: „Wie vermeid ich den Ort der Qual? Und wie komme ich zu der versuchungslosen, vollkommenen Ruhe der erlösten Seelen eines Abraham und eines armen Bettlers Lazarus?


 9. Und diese Frage ist es, deren Lösung uns ungebeten, um unserer furchtbaren Seelengefahr willen der HErr zuletzt in diesem Evangelium gibt. Achtet,

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 015. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/354&oldid=- (Version vom 1.8.2018)