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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Stillschweigen übergehen können, wie Er ja vieles hörte, ohne es zu besprechen; aber dazu war Er zu sehr Sünderheiland und auch Sein Wunsch, die Pharisäer und Schriftgelehrten von der Straße des Verderbens ab und auf den Weg des Heiles zu rufen, war zu heiß und tief, als daß Er ihnen nicht hätte eine Vertheidigung Seines Thuns gegenüberhalten sollen, die, wenn sie nur nicht boshaft widerstrebten, sie von ihrem hochmütigen Irrtum heilen und zur Verehrung Seiner Wege bringen konnte. Diese Vertheidigung Seiner Sünderliebe ist es, welche wir in unserm Evangelium lesen und welche wir mit einander betrachten wollen. Hoffentlich sind wir nicht auch Pharisäer, sondern zählen uns gerne zu den erlösungsbedürftigen Zöllnern und Sündern. Wie dem aber auch sei, auch wenn wir Pharisäer wären: die Schutzrede, welche der HErr Seiner Sünderliebe hält, wird uns allen heilsam sein und nur um so heilsamer, je genauer und tiefer wir sie erkennen.

 Die ganze Vertheidigung des HErrn, so weit sie in den zwei Gleichnissen von dem verlorenen Schaf und Groschen enthalten ist, gründet sich, es kurz zu sagen, auf das Eigentumsrecht, das Er an alle Menschen, auch an die Verlorenen hat. Aus dem Eigentumsrechte folgt alles Sein Thun, wie Er es gegen die Sünder und Zöllner übte, und wie Er es so überaus schön und lieblich in den zwei Gleichnissen unsers Textes schildert. Was irgend einer seinem verlorenen Eigentume zu Liebe thut, das thut der HErr zu Liebe der verlorenen Sünder. Wie muß es in die Seele der neidischen Pharisäer und Schriftgelehrten eingeschnitten haben, und wie sanft muß es den armen Zöllnern und Sündern gethan, wie tief muß es sie vor dem HErrn in den Staub gebeugt haben, als Er ihre Schuld gar nicht berührte, sondern nur von ihrem Unglück, von ihrer Verlorenheit und von ihrer Wiederbringung zur seligen Heerde, zum sichern Schatze redete! Zwar ließ es der HErr dabei nicht; im strengsten Zusammenhang mit unserm Evangelium steht jenes berühmte Evangelium vom ungerechten Haushalter, das wir am neunten Sonntage nach Trinitatis aus Lucä 16 lesen, und in demselben werden die getrösteten Sünder und Zöllner zur Heiligung angeleitet und ihre Schuld dermaßen ans Licht gekehrt, daß es kein anderer Lehrer in gleichem Maße vermocht hätte. Aber vornherein in Seiner Rede spricht der HErr kein scharfes Wort gegen die verlorenen Schafe, die Er wiedergefunden hatte, − kein Wörtlein, das ein Pharisäer irgend sich und seiner Richtung zu Gunsten und zur Entschuldigung hätte deuten können. Er ist ganz Trost, ganz Liebe zu den verloren gewesenen, nun wieder gefundenen Schafen und die Freude des Himmels über Sünder, die Buße thun, spricht aus jedem Wort und Laute unsers heutigen Textes. So wollen wir denn auch ganz bei Seinen Worten bleiben und nur in Seinem Sinne reden, und wenn sich darüber ein Pharisäer unter euch ärgern will, so soll uns seine Sünde leid sein, aber unsere Freude an diesem süßen Evangelium, das wir alle so sehr bedürfen, soll uns deshalb nicht verkümmert werden. Laßet mich euch unverweilt aus meinem Texte einen Strauß heilsamer und heiliger Gedanken reichen, an dem der Geruch der großen Liebe hafte, die ich nicht schöner für Sünder, nicht ärgerlicher freilich auch für Pharisäerohren nennen kann als Sünderliebe.


 1. In dem ersten Gleichnis redet der HErr von vielen unverlorenen und Einem verlorenen Schafe, in dem zweiten von vielen unverlorenen und Einem verlorenen Groschen. Beide Male meint Er unverlorene und verlorene Menschen, − und beide Male bezeugt Sein heiliger Mund Liebe zu denen, die nicht verloren sind und die es sind. Oder meinen wir etwa, daß der HErr in den beiden Gleichnissen nur Liebe zu dem Verlorenen ausspreche? Geht ihm etwa das Verlorene nur so lange zu Herzen, als ers verloren hat, und wenn ers gefunden hat, achtet ers nicht mehr? Sind denn die unverlorenen andere Menschen als die verlorenen? Waren sie nicht auch zuvor verloren, wurden sie nicht auch gesucht, gefunden und gesichert? Wenn sie aber auch einst verloren, nun aber gefunden und nicht mehr verloren sind, warum soll sich die Liebe des guten Hirten, warum die Liebe des suchenden Weibes, der heiligen Kirche, von ihnen gewendet haben? Unser Gleichnis redet nicht von der Liebe Christi, die sich in der Heiligung, Erhaltung und Vollendung seiner wiedergefundenen Schafe kund gibt; aber damit ist sie nicht geleugnet; der HErr hat nur hier die besondere Absicht, die Liebe zu seinen verlorenen Schafen zu preisen, an anderen Orten weiß er uns genugsam vorzustellen, wie Ihm Seine gefundenen niemand aus den Händen reißen könne, wie Er ihnen das ewige Leben

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 024. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/363&oldid=- (Version vom 1.8.2018)