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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

der Hand behalten; Christus hingegen ist so weit über Hirten und suchende Frauen erhaben, daß Er, indem Er suchen geht, dennoch bei Seinen versammelten Heerden bleibt, und indem Er das Haus nach einem verlorenen Groschen durchspäht, die andern fest in Seiner Hand behält. Da Er immer sucht und ruft bis ans Ende der Tage, so müßte Er um der Verlorenen willen die Gefundenen bis ans Ende alleine laßen; oder umgekehrt, da Er ewig bei den Seinen bleibt, so könnte Er nicht suchen, wenn Er Menschen gleich zu rechnen wäre. Er ist aber allgegenwärtig − im Himmel bei den ewig gewonnenen Schafen, auf Erden bei der Heerde, die ohne Ihn den Weg durchs Todesthal und zum himmlischen Zion nicht findet, in der Welt bei den verlorenen Schafen, die Ihn nicht suchen, die Er Selbst suchen muß, wenn sie gefunden werden sollen. Während wir jetzt von Ihm reden, wird Er im Himmel von allen Engeln und Auserwählten angebetet, − verweilt Er zugleich segnend in der Mitte Seiner Gläubigen auf Erden, − sucht Er auch die verlorenen, von Ihm fliehenden Schafe in ihren verborgensten Schlupfwinkeln auf. Daß Er der Liebe nach keinen versäumt unter allen, die je sein waren und wurden oder es werden können, haben wir oben vernommen. Eben so gewis ist, daß Er mit Seiner Gegenwart und Macht, mit Seinem Werk und Seiner Wohlthat von keinem weicht. Schon da Er auf Erden im Fleische lebte, redete Er von Seiner auch damals andauernden Gegenwart im Himmel; wie viel mehr wird Seine Gegenwart an allen Orten Seiner Herrschaft nun zu predigen und zu preisen sein, da Er über alle Himmel erhöht ist und eingetroffen das Wort: „Siehe ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende!“ Vor einem solchen Hirten, liebe Brüder, wollen wir Kniee beugen und nicht zweifeln, daß es Ihm bei vielen gelingen werde mit dem Werke Seiner Liebe, mit Seinem Suchen, Finden und Seligmachen!

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 4. Besondern Preises würdig ist der große Fleiß und die unermüdete Geduld, welche gemäß unsern Gleichnissen der HErr im Suchen verlorener Schafe beweist. Jener, der Fleiß wird besonders im Gleichnis von dem verlorenen Groschen hervorgehoben. Das Weib zündet ein Licht an, kehrt das Haus, durchsucht und durchspäht es mit Fleiß: worauf soll das sonst deuten, wenn nicht auf den großen Fleiß des HErrn im Suchen verlorener Seelen? auf jenen Fleiß, den Er eben damals bewies, als Er die Gleichnisse erzählte, da Er unter Zöllnern und Sündern suchte: um je einen oder etliche zu finden und selig zu machen? Wiewohl es nicht nöthig ist, sich auf den einen Fall zu beschränken, welcher Anlaß so herrlicher Reden im 15. und 16. Cap. St. Lucä wurde! Wir wißen ja, daß der HErr über drei Jahre lang das heilige Land vom Norden bis zum Süden durchzog, durchsuchte und durchspähte, um verlorene Schafe zu finden! Seine heilige Sorgfalt, Seelen zu erretten, hat sich während der ganzen Zeit Seiner Amtsführung so oft und in so hellem Lichte gezeigt, daß ein Hirte, der verlorene Schafe, ein Weib, das einen verlorenen Groschen sucht, nur Schattenrisse seiner suchenden Liebesgestalt sein können. Jetzt freilich ist Er erhöhet, auch Sein menschlich Auge bedarf nun kein Licht mehr, und Er braucht nicht mehr mit Besemen Sein Haus zu kehren, um verlorene Groschen zu suchen. Er weiß Seine Verlorenen und braucht überhaupt nicht mehr so zu suchen, wie Menschenkinder. Aber an Seiner Stelle sucht auf Erden Seine Braut, die heilige Kirche, nach ihres Bräutigams verlorenen Groschen, und wie sie es an Ihm drei Jahre lang gesehen, so thut sie seit Seiner Auffahrt immerzu; sorgfältig, menschlich, unermüdet sucht sie − und so genießt die verlorene Schaar der Sünder zugleich das göttliche Suchen ihres Hirten, der sie erkauft hat, und das menschliche des Weibes, Seiner Braut. Wir könnten euch von dem treuen Suchen JEsu und Seiner Braut, wenn es sein sollte, viel sagen, denn wie ist die suchende Gottes- und Bruderliebe so mannigfaltig und erfinderisch! Indes wird das eurem eigenen Nachdenken überlaßen, und für den Augenblick möchte ich eure Seelen vielmehr also lenken, daß sie die große Geduld des HErrn in Seinem Suchen wahrnehmen. Von dem Hirten heißt es: „Er geht hin nach dem Verlorenen, bis daß ers finde“ und von dem Weibe: „Sie sucht mit Fleiß, bis daß sie den verlorenen Groschen finde.“ Bis daß er finde, bis daß sie finde − diese Worte reden von der unermüdeten Geduld JEsu in Seinem Suchen. Er will diese Geduld von uns erkannt wißen und gepriesen sehen, daher diese Worte; wir aber müßen, um sie richtig zu erkennen und würdiger zu preisen, uns recht klar machen, wie weit hinaus über das Maß des suchenden Hirten und Weibes Seine suchende Geduld geht. Der Hirte, das Weib suchen in Hoffnung zu finden, die Hoffnung hält

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 026. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/365&oldid=- (Version vom 1.8.2018)