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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Menschen das Auge dafür getrübt und dagegen einen unüberwindlichen Freudenton und eine unbesiegliche Hoffnung in die Seele gegeben; sonst wäre nicht abzusehen, wie man auch nur Eine vergnügte Stunde unter der Sonne haben könnte. So groß aber das Elend ist, die Sünde ist doch noch viel größer. Sie scheint kleiner, wie immer ein Quell kleiner erscheint, als der Fluß oder See, welcher aus ihm kommt; aber wie denn doch Flüße und Seen aus kleinen Quellen zusammenfließen, so ist das unermeßliche Elend der Welt auch nur ein Aus- und Zusammenfluß der Sünde. Sähe man alle Sünde und alles Elend zusammen, wo sollte man dann hinfliehen? Wer sollte uns dann trösten? Jeder müßte vor sich selbst, jeder vor allen andern erschrecken: ein Verzagen würde uns ergreifen und unser Herz, das Freude hofft und sucht, würde sich in die Verzweiflung dahingeben. Zu unserm Glücke hat der HErr uns auch über unsre Sünde einen Schleier geworfen und offenbart hier auf Erden von derselben einem jeden nur so viel, als ihm gut und nöthig ist zur Buße, − an den Brüdern aber nur so viel, als hinreicht, uns die Uebung jener Liebe darzubieten, welche am Bruder weder durch sein Elend irre wird, noch durch seine Sünde, welche mit dem guten Hirten lieb hat, so lange es sein kann, nemlich bis der Tod Leib und Seele des Bruders von hinnen nimmt. Liebe dieser Art, barmherzige, unermüdliche Christenliebe kennt und hat die Welt nicht; aber alle, die Christo angehören, sollen sie in der Schule ihres HErrn lernen und üben und groß darin werden, und sie ist es auch, von welcher unser heutiges Evangelium handelt. Der Grundton dieses Evangeliums sind die Anfangsworte desselben: „Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist!“ Barmherzige Nächstenliebe predigt jedes Wort, wie wir das ohne Zweifel durch den ganzen nachfolgenden Vortrag werden bestätigt finden.

 Liebe ist in ihrer Erweisung mancherlei − Freundlichkeit, Leutseligkeit, Sanftmuth, Geduld, Beständigkeit und noch viel mehr. Eine Erweisung der Liebe ist auch die Gnade und nahe verwandt mit dieser ist die Barmherzigkeit. Gnade ist Liebe zu den Unwürdigen und Sündern, Barmherzigkeit ist Liebe zu den Elenden. Ob man im eigentlichen Sinne einen Menschen, sei es auch der höchstgestellte, Gnade zuschreiben dürfe, muß bezweifelt werden, da der ohne Sünde sein müßte, der sich in gnädiger Liebe zu sündigen Brüdern neigen sollte. Dagegen unterliegt es keinem Zweifel, daß ein Mensch gegen seinen Mitmenschen barmherzig sein kann. Denn es schließt nicht einmal das eigene Elend und deßen Gefühl barmherzige Hinneigung zu fremdem Elend aus, sondern aus eigenen Leiden lernt man gerade Mitleid und Erbarmen. Dazu kommt noch, daß es Zeiten gibt, wo den Menschen sein eignes Elend nicht drückt, wo er sich frei und glücklich fühlt. Und in solchen Zeiten soll der Dank für das eigene Glück desto mehr zum Erbarmen treiben.

 Liebevolles Erbarmen erweist sich hinwiederum auf mancherlei Art, nach unserm Evangelium insonderheit vierfach, nemlich im Nicht-richten, im Nicht-verdammen, im Vergeben und im Geben. Wenn wir uns nun anschicken, diese vierfache Uebung barmherziger Liebe genauer zu betrachten, so wollen wir uns vornherein nicht verhehlen, daß die Barmherzigkeit Gottes selbst ihre Grenzen hat, also auch die unsrige, da wir barmherzig sein sollen, wie unser Vater im Himmel. Hat aber die Barmherzigkeit selbst ihre Grenzen, so kann man auch den zwei Verboten des Nichtrichtens und Nichtverdammens und den beiden Geboten des Vergebens und Gebens kein schrankenloses Gebiet zugestehen. Der größte Theil des Verständnisses dieser vier Befehle des HErrn hängt von der richtigen Erkenntnis ihrer Grenzen ab, und sie haben das überhaupt mit den Befehlen der Bergpredigt gemein, welche tausenderlei Verwirrung und Anstoß denjenigen bietet, die nicht auf Sinn und Absicht des allerheiligsten Predigers, nicht auf harmonische Begrenzung und auf Zusammenklang der einzelnen Aussprüche sehen, sondern aus jedem Spruche die ganze Bibel machen und über dem oder jenem die ganze Bibel vergeßen wollen.

 Der HErr spricht: „Richtet nicht!“ und so gibt es also ein verbotenes Richten. Er spricht aber auch: „Richtet ein rechtes Gericht“; und darum gibt es auch nicht bloß ein rechtes, ein unsträfliches, sondern sogar ein gebotenes Richten. Wenn uns die Weisung gegeben wird: „Prüfet alles und das Gute behaltet!“ und der Art Befehle zu prüfen in der heiligen Schrift neuen Testamentes ein ganzer Haufe sind; so können wir diesen Befehlen ohne Vergleichen und Unterscheiden gar nicht nachleben. Vergleichen und unterscheiden wir aber, scheiden wir vom Bösen das Gute, vom Guten das Böse, so richten wir. Denn

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 030. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/369&oldid=- (Version vom 1.8.2018)