Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/371

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

der Barmherzigkeit, aber auch im Dienste weichlichen, im Grunde unbarmherzigen Leichtsinns stehen. Wie mancher gibt schnell und eilend, um nur schnell den Anblick des Elends von seinem Auge wegzuschaffen, weil es sein eigenes, fleischliches Wohlbefinden stört! Was für einen Theil hat da die Gabe an der Barmherzigkeit und an der Liebe, welche nicht das Ihre sucht, sondern das, was des andern ist? Und doch ist alles Geben ohne Liebe, ohn Erbarmen, ohne Hinsicht auf des Nächsten wahres, ewiges Heil nur Schellenton und eitle Stoppeln, welche das Auge des richtenden Gottes verzehrt. Gewähren und Versagen, Zuwenden und Entziehen, − beides kann und soll barmherzig sein, und Barmherzigkeit muß Herz und Zunge und Hand und unsern ganzen Wandel regieren, wenn wir anders diesem Evangelium nachleben wollen.


 Mit alle dem ist nun freilich der Behauptung Nachdruck gegeben, daß die vier besondern Ermahnungen unseres Textes ganz im Dienste der Barmherzigkeit stehen; aber eine Ermunterung, den Ermahnungen zu gehorchen, liegt darin nicht. Diese Ermunterung können wir jedoch finden, wenn wir eine andere Stelle unsers Textes erwägen, durch welche dem Gehorsam und Ungehorsam gegen die Ermahnungen des Herrn die gerechte Vergeltung verheißen und angedroht wird. „Ein voll, gedrückt, gerüttelt und überflüßig Maß wird man in euern Schooß geben. Denn eben mit dem Maß, da ihr mit meßet, wird man euch wieder meßen.“ So spricht der HErr im Texte, und niemand wird in diesen Worten eine offenbare Verheißung und eine darein eingehüllte Drohung verkennen.

 Zwar arbeitet die Liebe nicht um Lohn und Dank. Sie stammt von Demjenigen, welcher alle Tage so Undankbare wie Dankbare mit der Fülle Seiner Wohlthaten überschüttet. So sieht auch sie das allgemeine Elend in der Welt gleichwie ihr Vater an und freut sich, durch erbarmendes, schonendes, helfendes Benehmen, so viel an ihr liegt, einen anspruchlosen Beitrag zur Milderung zu thun. Doch aber ist die Liebe in unserer Brust nicht bloß göttlich, sondern auch menschlich, und es wandelt sie deshalb, wie jede andere Menschentugend, Schwachheit, Lauheit und Ermatten an; sie bedarf zu Zeiten der Ermunterung, um nicht zu sagen, sie bedarf dieselbe allezeit. Darum hat auch der HErr, der uns kennet, Seinen Worten und Geboten so fleißig Verheißungen und Drohungen eingewebt und will, daß Seine Diener beide Seinem Volke vorhalten und in ihrer Wahrheit und Größe zeigen. Da erschreckt dann die Drohung den Trägen und treibt ihn vom Faulbette der Sünde, und die schöne Krone der Verheißung lockt und zieht auch den Fleißigen an. So ist es auch hier, meine Brüder. Daß uns mit gleichem, aber vollerem, gerütteltem und geschütteltem Maße vergolten werden soll, ist gewis in keiner andern Absicht beigesetzt, als unsern Eifer zu reizen. Schämt sich der HErr nicht, uns mit Drohungen zu schrecken und mit Verheißungen zu locken; so brauchen wir armen Sünder uns desto weniger zu schämen, wenn wir uns schrecken, locken und ziehen laßen. Die solcher „Gnadenmittel“ Gottes glauben entbehren und aus Kraft einwohnender Liebe den rechten Pfad wandeln zu können, kennen sich nicht; und die es für gemein halten, nach Kronen verheißenen Lohnes zu ringen und vor dem Feuer gedrohter Strafen zu fliehen, mögen zusehen, daß sie nicht eines andern überwiesen werden, daß sie nicht, wie es den Hochmüthigen oft geschieht, aus erträumten Höhen in gemeinen, tiefen Koth der Eigenliebe herunterstürzen.

 Was nun die besondere Verheißung unseres Textes anlangt: „Ein voll, gedrückt, gerüttelt und überflüßig Maß wird man in euern Schooß geben“; so deuten die Worte „man wird geben“ oder „sie werden geben“ auf eine Vergeltung durch Menschen hin. Der HErr will den Barmherzigen durch Menschen Barmherzigkeit widerfahren laßen und ein unbarmherziges Gericht soll die Unbarmherzigen durch Menschen treffen. Verheißung und Drohung des HErrn weisen uns also nicht zunächst ans Ende der Tage hin und in die Ewigkeit hinein, sondern in die Geschichte und in die Erfahrung des täglichen Lebens. Da müßen wir aber freilich gestehen, daß wir, so fest Gottes Worte stehen, dennoch nicht mit gleicher Gewisheit und Sicherheit ihrer Erfüllung im Leben folgen können. Wir sehen nicht allewege die Erfüllung der göttlichen Gerichte, sondern warten des Tages, der alles klar macht. Manches und vieles offenbart der HErr Seinen Knechten, die Fülle Seiner Offenbarung liegt aber doch am Ende.

 Am leichtesten ist es, in der Geschichte und im täglichen Leben die Beweise dafür zu finden, daß der

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 032. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/371&oldid=- (Version vom 1.8.2018)