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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Richtende und Verdammende auch wieder Gericht und Verdammungsurtheil, der nicht gerne richtet und das verdammende Urtheil verzieht, auch wieder Schonung bei seinem Nebenmenschen findet. Namentlich antwortet dem gerügten Fehler des Richtens und Verdammens sichere Vergeltung. Welcher Mensch, der seine Zunge zu Gericht und Verdammung seiner Brüder gemisbraucht hätte, wäre ungerichtet und unverdammt geblieben? Schon seltener ist der Beweis für die gerechte Wiedervergeltung derer, die nicht richten und verdammen, und noch weit seltener dürfte es sein, daß die Menschen Gottes Verheißung für die Vergebenden und Gebenden vollziehen. Zur Rache alles Bösen findet der HErr Hände und Werkzeuge genug unter den Frommen und Gottlosen; wer aber leiht Ihm gerne seine Hand, wenn Er den milden Herzen und Händen, die gerne vergaben und gaben, ein Gleiches thun will? Da müßen Ihm oftmals die Raben dienen, weil die Menschen ermangeln. Doch dürfen wir auch nicht allzutraurig sein. Der HErr hat allezeit und vieler Orten auch noch Diener und Dienerinnen, die gerne Seine Worte wahr machen und mit Freude und Anbetung zu Seinen Verheißungen die Erfüllung bringen. Und Er Selbst leitet viele Fromme und viele Gottlose also, daß sie zwar nicht wißen, was sie thun, daß aber doch geöffneten Augen hell und klar erscheinet, sie seien Werkzeuge in der Hand des HErrn, zu erfüllen alles, was Sein Mund gesagt hat. Wenn am Ende der Tage die Sichtung angestellt werden wird, so wird sichs zeigen, daß kein versöhnlich Herz sein zweites, in Gottes Namen antwortendes, gleichfalls versöhnliches Herz, kein mildes Wort sein Echo, kein Becher kalten Waßers, in des HErrn Namen gegeben den Becher entbehrt hat, der Bescheid that. Es geht eine Gerechtigkeit durchs Leben, die, wenn sie sich sehen läßt, majestätisch erscheint und auf die Kniee wirft, aber öfter geahnt, als gesehen wird, und noch öfter ungeahnt und unerkannt Thaten verrichtet, aus denen am jüngsten Tage Gottes Walten von allen Menschenkindern gerechtfertigt werden wird. Laßt uns mit Geduld in guten Werken nach dem ewigen Leben trachten: es werden am Ende alle mit der vergeltenden Gerechtigkeit Gottes zufrieden sein, und wenn kein Mensch vergolten haben würde, so wird doch Einer vergelten, und der vollkommen, der Vater nemlich, der ins Verborgene sieht.


 Da uns der HErr so sehr zur Ausübung der Barmherzigkeit lockt, so ist es zu verwundern, daß sich so wenig guter Wille dazu findet und so wenig Treue im schönen Werke. Und zwar finden wir, daß von den vier in unserm Texte genannten Aeußerungen barmherziger Liebe gerade die zwei leichteren „nicht richten, nicht verdammen“ verhältnismäßig sich am seltensten finden. Man sollte denken, Richten, Verdammen führe so gar keine Lust und Befriedigung mit sich, habe im Gegentheil so viel Pein bei sich und so viele üble Folgen hinter sich, daß sich ihrer jedermann gern entwöhnen würde. Aber das ist so gar nicht der Fall, im Gegentheil ist im Menschenherzen eine solche Lust zu richten und zu verdammen, daß immer einer am andern dieser Fehler schuldig wird. Daher kehrt auch der HErr im Texte noch einmal zu diesem abscheulichen Paare von Lüsten und Gebrechen zurück und straft sie in uns durch die beiden Gleichnisse vom Blinden, der andern Blinden die Stege zeigen wollte, und vom Splitter und Balken. − Es darf uns wohl auffallen, theure Brüder, daß der HErr so vielen Ernst und Fleiß auf Ertödtung des Richtens und Verdammens in uns wendet, und wir dürfen uns wohl besinnen, ob nicht auch uns zum Heil sein treuer Ernst und Fleiß gemeint ist. Laßet mich einige Worte, die aus dem Texte ihren Ursprung nahmen, davon sprechen! − Nichts ist gemeiner, als daß einer sich über den andern zu stehen dünkt, einer den andern belehren und zurechtweisen, führen und leiten will. Diese hofmeisternde, unerträgliche, geschwätzige Weisheit, die sich wie Liebe und Barmherzigkeit geberdet und einmal um das andere mal ihr Wohlmeinen und ihren treuen Willen rühmt, ist in der That nichts anders, als eine der häßlichsten Formen und Gestaltungen des Richtens und Verdammens. Ihr gegenüber steht strafend das Gleichnis vom blinden Wegweiser, der im besten Fall allein in die Grube stürzt, wenn er aber Leute findet, die blind wie er, sein blindes Auge nicht erkennen, andere mit sich hinunterreißt in sein Verderben und dann zum Lohne weiter nichts hat, als daß er für eigenes und fremdes Wehe immerwährende Verantwortung trägt. Solche Menschen, mögen sie gleich oft richtig den oder jenen Splitter im Auge des Bruders erkennen, sind doch selbst blind, weil sie da nicht sehen wo sehen am nöthigsten ist, nemlich wenn es gilt, sich selbst zu schätzen. Sähen sie, so würden sie eben das, was ihnen

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 033. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/372&oldid=- (Version vom 1.8.2018)