Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/39

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am ersten Weihnachtstage.

Evang. Luc. 2, 1–14.
1. Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot vom Kaiser Augustus ausgieng, daß alle Welt geschätzet würde. 2. Und diese Schätzung war die allererste, und geschah zu der Zeit, da Cyrenius Landpfleger in Syrien war. 3. Und jedermann gieng, daß er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. 4. Da machte sich auch auf Joseph aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land, zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum, daß er von dem Hause und Geschlechte Davids war, 5. auf daß er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe, die war schwanger. 6. Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, daß sie gebären sollte. 7. Und sie gebar ihren ersten Sohn, und wickelte ihn in Windeln, und legte ihn in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge. 8. Und es waren Hirten in derselbigen Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihrer Heerde. 9. Und siehe, des HErrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des HErrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. 10. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht; siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; 11. denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus der HErr in der Stadt Davids. 12. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt, und in einer Krippe liegend. 13. Und alsobald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerschaaren, die lobeten Gott, und sprachen: 14. Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen.

 WElch eine reiche Fülle von Gedanken strömt uns aus diesem Texte zu, geliebte Brüder! Wie viel, was zur Lehre, zur Strafe, zur Beßerung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit dienlich wäre, könnte aus ihm entnommen und vor den Gemeinden an diesem festlichen Tage in öffentlicher Rede besprochen werden! Wenn es nicht gerade der heutige Tag selbst wäre, von welchem dieß Evangelium handelt, wenn man heute in der gewöhnlichen ruhigeren und kühleren Seelenstimmung an die Betrachtung gienge: wie schwer sollte es einem Prediger werden, aus all dem Reichtum etwas auszuwählen, − eine Auswahl zu treffen, die ihn nicht alsbald wieder gereuete! Nun aber erscheint uns heute die Texterzählung von der Geburt des HErrn ganz anders als sonst, denn es ist ja des HErrn Geburtstag selber, um des willen wir heute den Text lesen; und wir erfahren es heute wieder, wie ganz verschiedene Wirkung auf die Seele ein und dasselbe Gotteswort zu verschiedenen Zeiten hervorbringt. Heute fühlt man sich ganz in die Geschichte versetzt, es ist als erlebte man wieder, was der Text erzählt: alle Betrachtung verwandelt sich in Beschauung, und der Prediger fühlt es als seine unabweisbare Pflicht, dem Text und seiner Geschichte nachzugehen und die großen Thaten Gottes zu preisen, welche am heutigen Tage geschehen sind. So geht es auch mir; ich kann es nicht ändern: ich bitte euch mit mir die Geschichte anzuschauen, welche heute geschehen ist.

 Der Text, welchen wir vernommen haben, zerlegt sich wie von selber in zwei Hälften: die erste erzählt uns die Geschichte von der Geburt des HErrn, die zweite berichtet von der ersten Verkündigung dieser Geburt. Jede der beiden Hälften wollen wir betrachten.

 Die erste Hälfte erzählt uns also die Geschichte der allerheiligsten Geburt. − Der Kaiser Augustus zu Rom hatte den Befehl ergehen laßen, in seinem Reiche eine allgemeine Schatzung vorzunehmen. Alle Einwohner der seinem Scepter unterworfenen Länder sollten sammt Hab und Gut eines jeglichen aufgeschrieben werden. Wie vielen er zu gebieten hätte, wie reich und groß sie wären, welche Forderungen

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 028. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/39&oldid=- (Version vom 22.8.2016)