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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

war ohne Spuren, wie man einen Schwamm vom Baume wegnimmt! 1,100,000 Juden waren während der Belagerung umgekommen, 97,000 wurden gefangen genommen und zerstreut in die Lande. Tausende fanden auch nach dem Schluß der blutigen Belagerungsarbeit ihren Tod auf mancherlei grausame Weise. Denn der HErr hatte gesagt: „Sie werden fallen durch des Schwerts Schärfe und gefangen geführt unter alle Völker, und Jerusalem wird zertreten werden von den Heiden, bis daß der Heiden Zeit erfüllet wird.“ (Luc. 21, 24.) − So gieng des HErrn Weißagung in eine Erfüllung, welche alle Furcht und Besorgnis überstieg. „Wie hat der HErr die Tochter Zion mit Seinem Zorne überschüttet! Er hat die Herrlichkeit Israel vom Himmel auf die Erde geworfen, Er hat nicht gedacht an Seinen Fußschämel am Tage Seines Zorns.“ (Klagl. 2, 1.) „Der HErr hat Seinen Altar verworfen und Sein Heiligtum verbannet, Er hat die Mauern ihrer Paläste in des Feindes Hände gegeben, daß sie im Hause des HErrn geschrieen haben, wie an einem Feiertage.“ (V. 7.) „Der HErr hat gedacht, zu verderben die Mauern der Tochter Zion, Er hat die Richtschnur darüber gezogen, und Seine Hand nicht abgewendet, bis Er sie vertilgete.“ (V. 8.) „Der HErr hat gethan, was Er vor hatte. Er hat Sein Wort erfüllt, das Er längst zuvor geboten hat.“ (5. Mos. 28, 15. 20.) „Er hat ohne Barmherzigkeit zerstöret, Er hat den Feind über dir erfreuet und deiner Widersacher Horn erhöhet!“ (V. 17.)

 So hat der HErr an Seinem Hause die Heimsuchung Seines Gerichtes begonnen: was Er zukünftig über die Stadt Seines Namens verkündigt hatte, ist geschehen. Was aber geschehen ist, ist uns zur Warnung geschehen. Die Angst Jerusalems deutet auf die Angst der letzten Tage. Denn wenn diese kommen werden, so „wird den Leuten auf Erden bang sein und werden zagen, und das Meer und die Waßerwogen werden brausen, und die Menschen werden verschmachten vor Furcht und Warten der Dinge, die kommen sollen auf Erden. Denn auch der Himmel Kräfte sich bewegen werden.“ (Lucä 21, 25. 26.) − Die Heere der Römer vor Jerusalem deuten auf jene Heerschaaren, in deren Mitte der Schreckliche erscheinen wird, von welchem der Feldherr Titus nur ein geringes Vorbild war. Denn „Siehe, der HErr kommt mit viel tausend Heiligen, Gericht zu halten über alle und zu strafen alle ihre Gottlosen um alle Werke ihres gottlosen Wandels, damit sie gottlos gewesen sind, und um alle das Harte, das die gottlosen Sünder wider Ihn geredt haben.“ (Juda 14. 15.) Ja, man wird „alsdann sehen des Menschen Sohn kommen in den Wolken, mit großer Kraft und Herrlichkeit.“ (Luc. 21, 27.) − Und die Flamme Jerusalems erinnert an jenen Brand, von welchem St. Petrus schreibt: „Der Himmel und die Erden werden durch Sein Wort gespart, daß sie zum Feuer behalten werden am Tage des Gerichts und Verdammnis der gottlosen Menschen. − Es wird aber des HErrn Tag kommen als ein Dieb in der Nacht, in welchem die Himmel zergehen werden mit großem Krachen, die Elemente aber werden vor Hitze zerschmelzen, und die Erde und die Werke, die drinnen sind, werden verbrennen.“ (1. Petr. 3, 7. 10.) Also wird vor dem Angesichte Deßen, der da kommt, „Himmel und Erde fliehen und wird ihnen keine Stätte mehr erfunden werden.“ (Offb. 20, 11.)

 Noch ist diese Heimsuchung Gottes in Gericht und Gerechtigkeit über die ganze Erde nicht gekommen. Aber sie kommt! So gewis nach langer Zeit der Weißagung die Sündfluth über die Erde, und Feuer und Schwert über Jerusalem kam: so gewis wird kommen zur Zeit, da mans nicht denket, der HErr, der Wahrhaftige, und mit Ihm Sein Lohn! Ein Tag ist vor dem HErrn, wie tausend Jahre, und tausend Jahre, wie Ein Tag (2. Petr. 3, 8.), − aber Er, der da spricht, so geschiehts, Er spricht: „Siehe, Ich komme bald!“ (Offenb. 22, 20.)


 3. So lehrt also die Schrift eine doppelte Heimsuchung Gottes. Da ist die Heimsuchung der Gnaden. Künftig ist die Heimsuchung des gerechten Gerichts Gottes. Jene wird verkündigt und bewährt sich mit ihrem himmlischen Reichtum und ergießt sich mit Freuden, wie ein Strom. Diese wird verkündigt, und Gott Lob! Gott Lob! noch ist sie nicht erschienen. Es kommt nun alles darauf an, wie jene aufgenommen wird, und wie man sich zu dieser bereitet.

 Wie die Gnadenheimsuchung aufgenommen wird, das zeigt das Beispiel Jerusalems zur Zeit Seiner gnädigen Heimsuchung. Wenn man freilich nach dem

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 064. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/403&oldid=- (Version vom 17.7.2016)