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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 O daß unter uns so wenige geistlich Taube und Stumme, als leibliche Taube und Stumme wären! Aber ach, wie viele unter uns hören die Stimme des guten Hirten in der Predigt an, als wäre es die Rede des Lotterbuben! Wie viele vermögen sie nicht zu verstehen! Wie viele werden trotz der lauttönenden Wahrheit in ihrem verkehrten Denken und Reden nicht geändert, sondern eher immer härter! Wie viele hören, wie die falschen Zeugen JEsu gerade das Gegentheil von dem heraus, was gemeint ist! Wie viele hören sich zum Schaden! Wie viele sind nicht etwa nur taubstumm, wie geschrieben steht: „Sie haben Ohren und hören nicht etc.“; sondern haben so kranke Ohren, daß sie die klare Wahrheit als Verwirrung, das reine Wort als Lüge, den Segen als Fluch − und den Fluch als Segen verstehen müßen, − müßen, weil sie nicht anders wollen!


 2. Da darf man wohl Mitleid haben. − Mitleid ist Mitleiden, Mitleid thut weh, wenigstens ist es bittersüß. Mitleid erfüllt das Herz, − das Auge, − die Züge, − den Mund, − die Hände, − die Füße. Mitleid ist Leben, ruhendes Mitleid ist todtes Leben. − Zum Mitleid gehört Wohlwollen und Liebe. Wer sich den Zustand des andern wohlwollend vor Augen stellt und sich recht lebendig hineinversetzt, in dem wird Mitleid entstehen. Wer deshalb den Zustand eines Taubstummen, seine Gebundenheit, seine Entbehrungen genau ermißt, der wird mitleidig und zur Hilfe geneigt werden. Er wird es um so mehr, je glücklicher er selbst ist, je verschiedener sein Schicksal von dem traurigen Schicksale seines Nächsten ist, und je mehr der bemitleidete Unglückliche von der Art ist, daß er seinen Mangel nicht oder nicht genug fühlen kann. So war es nun auch bei dem Taubstummen unsers Textes. Er konnte, so sehr es etwa auch seinen Kräften gemäß geschah, doch nicht genug ermeßen, wie elend er war. Seine Angehörigen ermaßen es um so mehr. Ihr Mitleid trieb sie, für ihn zu sorgen und alles anzuwenden, was zu seinem Heile dienen konnte. Zwar an allen menschlichen Aerzten hatten sie Ursache, zu zweifeln; menschliche Aerzte heilen Taubstumme nicht, das wußten sie. Es gab für ihren Kranken keinen Helfer, als JEsum. Darum brachten sie ihn zu JEsu! Sie brachten ihn und baten den HErrn, die Hand auf ihn zu legen. Die Leute zur damaligen Zeit konnten mehr nicht thun, als ihre Kranken bringen und für sie bitten. Mit dem Bitten war ihre Arbeit zu Ende. Wir können für unsere Kranken und Elenden noch weniger thun, und brauchen nicht so viel zu thun. Wir können sie nicht bringen, und Gott Lob, wir brauchen sie nicht zu bringen, denn ER ist ihnen allen Selbst nahe und Seinen barmherzigen Augen ist niemand verborgen. Aber bitten können sollen auch wir und haben beim Bitten eine größere Hoffnung, als die Leute zu JEsu Zeit. Denn zur Zeit Seines Fleisches war JEsus Christus Seiner Herrlichkeit entäußert, Wunder waren Ausnahmen, so viel es auch waren. Jetzt aber sitzt ER im Regimente. Ihm ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden, wir können betend aus Seinem Reichtum schöpfen, was und wie Großes wir auch bedürfen. Unser Bitten erwartet nun nicht mehr zu viel.

 Da nun das Mitleid nicht mehr thun kann, als Fürbitte, da es so wenig thun kann und so große Hoffnung des Erfolgs hat, warum bitten nicht auch wir mehr für unsere Freunde, für unsere Feinde? Wir sehen die Mängel an Freund und Feind oft so scharf, wir reden so oft davon mit Menschen, die nicht helfen können, − warum tragen wir nicht unserer Brüder Bedürfnis dem Vater im Himmel und Seinem Sohne JEsu Christo betend vor? Wir können zwar mit unserer Fürbitte die Barmherzigkeit des HErrn weder erwecken, noch stärken; aber der HErr hat doch der Fürbitte so große Verheißungen gegeben: wollen wir denn nicht betend diese Verheißungen einsammeln, wie himmlische Garben, zu der Brüder Heile und zu unserer Freude? Und das Elend so vieler Menschen fordert uns so dringend auf zur Fürbitte! Wir sehens, wir greifens fast, wie viele unter uns sind, welche nicht sehen und hören, noch reden. Es ist um uns her alles so taub und stumm. Die unheimliche Stille von Gott und göttlichen Dingen bei dem Geräusche weltlicher Angelegenheiten; die taube Verschließung aller Ohren vor den Stimmen, die vom Himmel kommen, muß uns so sehr befremden! Kann es uns denn wohl sein in solchen Umgebungen? Kümmerts uns denn gar nichts, ob Tausende, ja Millionen verloren gehen? stumm und taub zur Hölle fahren? Wie viele, die nun selig sind, sind erbetene Gotteskinder! Wie wenige sinds nicht! In einem gewissen Sinne sind es alle, denn der ewige Hohepriester betet für alle mit

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 078. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/417&oldid=- (Version vom 24.7.2016)