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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Namen und Seine Kirche betet mit und ohne Namen und Namenkenntnis für alle! Ohne Gebet ist niemand selig geworden. Darum, Brüder, weniger Klage, weniger Scheltwort, weniger Hader, weniger Getöne dieser Welt und mehr Gebet, mehr Gebet! mehr Fürbitte! Die Welt spürts, ohne zu wißen, woher es kommt, wenn einige betende Menschen mehr sind! Der Beter spürts nicht, aber die für welche gebetet wird! Der HErr vergibt öffentlich, was heimlich im Kämmerlein geschieht. Dazu schürt der betende Mensch in sich eine Flamme der höhern Welt an, welche ihn durchglüht und verklärt und all seine Umgebung erwärmt. Darum, Brüder, beten, beten! daß das Widerwärtige verzehrt werde, daß der HErr und Seine Hilfe erscheine!


 3. Auch ER, auch der HErr ist mitleidig, wie wir, oder vielmehr wie wirs nie sind. Das ist unsere Freude und unser Glück, daß die Gottheit in Christo JEsu der Menschheit so nahe geworden ist, daß sie die Menschheit annahm, daß der HErr Immanuel an eigenen Leiden Mitleiden lernte, daß ein menschliches Herz auf dem Throne Gottes schlägt, daß im Himmel ein mächtiges Bewußtsein und doch ein menschliches Bewußtsein unsers Elends ist. Ganz anders schaut nun der bedrängte Mensch gen Himmel auf, und in einem besondern Sinne sprechen wir in unsern Nöthen jetzt unser: „Du weißt, wie mir zu Muthe ist!“ Es ist ein göttlich-menschliches Erbarmen im Himmel − und eine heimliche Antwort, eine stille Versicherung des Mitleids steigt in die Seele des betenden Leidenden herab. − Doch laßt uns die Art und Weise, wie der HErr am Taubstummen Sein Erbarmen bewährt, betrachten.

 Er nimmt ihn vom Volke besonders − Er legt ihm die Finger ins Ohr − Er spützt und rührt seine Zunge. Er gebraucht Mittel, denen mans nicht ansieht, daß sie so große Hilfe mittheilen. Zwar so viel erkennt man wohl, diese Mittel mußten den Taubstummen aufmerksam machen, daß der HErr etwas Besonderes mit ihm vorhabe − die Seele des Armen wird diese Zeichensprache wohl verstanden haben und auf ihre Warte getreten sein, zu schauen, was da kommen sollte. Aber das bleibt gewis, es waren die Mittel an und für sich gering. Sein Finger − Sein Speichel, Sein Berühren, wie wenig ist es! Allein hätten diese Mittel auch gewis nichts ausgerichtet. Mit diesen äußerlichen Mitteln mußte sich eine Kraft vereinigen, welche sie fruchtbar machte. Diese Kraft lag in dem Worte des HErrn − im Hephatha, thue dich auf. Gleichwie im Sacramente des HErrn das Waßer allein kein gnadenreiches Lebenswaßer ist, sondern es erst durch das damit verbundene Wort ist; gleichwie das Brot, der Wein im Abendmahl ohne Wort des HErrn nur Brot und Wein sind und keine seelenheilende Kräfte des Lebens bei sich haben: so ist es auch mit unserm Wunder. Erst durch das Hephatha wird die Berührung des Fingers und Speichels JEsu zum mächtigen Hilfsmittel für den Taubstummen. − Da zeigt uns der HErr, wie Seine Weisheit unter den Menschenkindern gerne in verbergenden Hüllen spielt, wie ER sich so gerne mit Seiner Gnade in allerlei Mittelursachen verhüllt. So thut ER in der Natur, so thut Er im Reiche der Gnaden. ER bestreuet nicht unmittelbar die Erde mit Korn und Trauben, Er schüttet die Aepfel nicht unmittelbar aus Seiner himmlischen Vorrathskammer; sondern ER erzieht mit Seiner Geduld das Aehrenfeld, den Weinberg, den Baumgarten − und reicht uns durch mancherlei anmuthige Arme und Hände Seine süßen Gaben. Alle Gaben schenkt Er mittelbar − und keine Seiner Gaben dient der Seele zum Segen ohne Sein heiliges Wort. Die Sonne in ihrer Herrlichkeit, der Mond in seiner schauerlichen Heimatlichkeit, die Sterne in ihrer wundervollen Verheißungsfülle, − ja, alle Engel in ihrem himmlischen Glanze: ohne das Wort des HErrn sind sie Schaugepränge, Schaugerichte. Aber diese tauben Creaturen, diese vernunftlosen Wesen − sie bekommen eine Sprache, sie bekommen Segnungen über Segnungen für uns, sie werden uns zum Paradiese des Glaubens, − und die heiligen erscheinenden Engel werden zu Gottes Boten, wenn über ihnen, mit ihnen, durch sie ein Wort des HErrn zu uns gelangt. Nichts ist heilsam ohne Gottes benedeiendes Wort, alles, was nicht zum höllischen verlorenen Reiche gehört, wird heilsam, wenn das Wort damit verbunden wird. Der Apfelbaum lächelt ohne Wirkung, wenn ohne Wort − aber schreib über seine Blüthen „Gottes Verheißungen trügen nicht. Was ER zusagt, das hält ER gewis!“ so ist der Stumme redend worden − oder vielmehr dein verschloßenes Ohr ist empfänglich worden für die

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 079. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/418&oldid=- (Version vom 24.7.2016)