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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

desselben das Leben erlangen wollen. Durchs Gesetz selig werden und durch Erfüllung des Gesetzes selig werden wollen ist Eins. Diese Meinung aber, dieser Wahn beruht auf einem Mangel an Erkenntnis sowohl der Höhe des Gesetzes, als der Tiefe des eigenen Verderbens, wie wir das auszusprechen so oft schon Gelegenheit und Aufforderung hatten. Was kann man also solchen Leuten Beßeres thun, als ihnen zeigen, wie weit entfernt ihr Ziel und wie ohnmächtig sie selbst sind, es zu erreichen? Und wie wird man ihnen das beßer und erfolgreicher zeigen können, als durch Ermunterung zu Versuchen? So lang ein Mensch zu Versuchen Lust behält, gibt er zwar immer zu erkennen, daß ihm der Versuch noch nicht gelungen ist; aber anderer Seits beweist er auch, daß ihm durch alle Versuche noch nicht die Ueberzeugung beigebracht werden konnte, daß es mit Thun und Wirken nicht zu erlangen sei, das Leben der ewigen Seligkeit. Ein Mensch werde nur fürs erste recht ernst und redlich in der Arbeit des Gesetzes, so wird er bald erkennen, daß die Ermunterung: „Thue das“ und die Verheißung: „So wirst du leben“ durch eine unausfüllbare und unübersteigliche Kluft menschlicher Schwäche und Ohnmacht geschieden sind. Könnte einer thun, was unser Evangelium gebietet, so würde er freilich das Leben haben. Aber wir sind durch die Erbsünde gebunden und regiert und müßen deshalb in einem besondern Sinne von uns das Wort gelten laßen: „Wenn wir alles gethan haben, so sind wir unnütze Knechte.“

 Manchen Menschen klingen die zehn Gebote so gering − und erscheinen ihnen als ein so gar kleines Register von Gott befohlener, guter Werke, daß sie, weit entfernt, sie als unerreichbar für menschliche Kräfte zu erkennen, dieselben immer noch zu überbieten streben. Denen geht es, wie manchmal einem Wanderer, dem in der Ferne ein Bergesgipfel gar nicht sonderlich hoch erscheint, dem er aber, je näher er ihm kommt, desto beschwerlicher zu erklimmen wird. Ein Berg ist Gottes Werk − und das Gesetz ist Gottes Wort. Man kann schon daraus schließen, daß beide nichts Kleines, sondern etwas Gottes Würdiges, Erhabenes, Herrliches sein werden; man kann es schließen, ehe mans erfahren hat. Wer die gegentheilige Meinung hegt, kann nicht gut schließen und hat wenig Erfahrung. Solchen Menschen gegenüber steht JEsus Christus. Er weiß freilich, was am Gesetz ist. Darum weist er alle, die am Gesetze Helden geworden sein wollen, immer wieder auf dasselbe hin. Er kennt nichts Höheres, als die Vollkommenheit der zehen Gebote. Drüber hinaus liegt ihm keine Vollkommenheit mehr. Denkst du anders? Suchst du vielleicht jenseits die betrogene, selbst erwählte Tugend, die sichs selber mit eigenen Werken möglichst schwer macht, weil ihre Füße nicht auf Gottes steilem Pfade gehen? Gib dir nur keine Mühe, eitler Thor, die zehen Gebote werden an dir und deiner Kraft nicht zu Schanden werden. Versuch dich nur! Die alttestamentliche Vollkommenheit ist eine wahre Vollkommenheit, drum wird sie vom Neuen Testamente bestätigt. Sie erfordert große Kraft und ist schwer zu erreichen; darum machts nicht wie die Kinder, die lieber wider der Eltern Befehl auf Mauern steigen, als nach ihrem Willen auf ebenem Boden gehen. Diese Kinder unternehmen auch das scheinbar Schwerere, weil sie das scheinbar Leichtere, im Grunde aber schwerere nicht können: gehorchen. Gehorsam, mein Freund, ist der beste Gottesdienst und beßer als Opfer, und zwar der Gehorsam, den du von Kind auf im ersten Hauptstück gelernt und bis in deine grauen Jahre noch nicht dargebracht hast.

 Der Schriftgelehrte freilich scheint der Meinung gewesen zu sein, die auch der reiche Jüngling hatte, − als hätte er nämlich das alles gethan. Denn er wollte sich rechtfertigen, das heißt, er wollte sich als einen Gerechten darstellen, welcher die ihm bekannten göttlichen Gebote wirklich vollbracht und aus diesem Grunde die Frage gestellt hätte: „Was muß ich nun ferner thun, auf daß ich selig werde?“ Darum fragte er auch ganz in diesem Sinne weiter: „Wer ist denn mein Nächster?“ als hätte er sagen wollen: „Meister, das erste von den zweien Geboten habe ich erfüllt, und das zweite könnte mir bloß dann noch etwas zu thun übrig gelaßen haben, wenn ich nicht verstünde, wen ich für meinen Nächsten zu halten habe. Darum sage mir: wer ist mein Nächster?“

 Und wahrlich, die Frage war sammt der rechten Antwort auf sie, zwar nicht, um ihn zu rechtfertigen, aber desto mehr, um ihn zum Bewußtsein seiner großen Mangelhaftigkeit zu bringen, vollkommen geeignet. Denn allerdings wurde die Selbsttäuschung, Gottes Gebot erfüllt zu haben, zum Theil durch seine

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 083. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/422&oldid=- (Version vom 24.7.2016)