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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

er liebt den Nächsten nicht, wie sich selbst, er zieht seinen Nutzen, sein Wohlsein, sein Leben dem des Nächsten vor.

 Wenn nun der Schriftgelehrte diese sich unläugbar und unwiderstehlich empfehlende Wahrheit aufnahm, so mußte er freilich einen höheren Begriff von der Nächstenliebe bekommen und einen desto geringeren von dem Maße der Nächstenliebe in seiner eignen Brust. Der Wahn, die Gebote erfüllt zu haben, mußte ihm zusammenstürzen. Seine eingebildete, dünkelhafte Gerechtigkeit mußte ihm sehr lückenhaft und löcherig erscheinen, − und überwiesen mußte er sein, daß er das zweite seiner schön angeführten Hauptgebote nicht verstanden, geschweige erfüllt habe. Wie wahrscheinlich mußte es ihm nun werden, daß er auch mit dem ersten Gebote, welches ein Jude schon deshalb gehalten zu haben glaubte, weil er geschnitzte Bilder nicht anbetete, daß er auch mit diesem es zu leicht genommen habe! Hatte er das leichtere Gebot nicht verstanden, wie viel eher konnte ein Gleiches bei dem schwereren Statt finden. Es gibt einen tieferen Sinn der Gebote, welcher wie wahrer Sonnenglanz von gemaltem, so von pharisäischer Auffaßung sich unterscheidet. Nach diesem tieferen Sinn versteht JEsus das „Thue das, so wirst du leben.“ Nach diesem tieferen Sinne wird ER alle Menschen einst richten − und welcher Mensch wäre so thöricht, zu hoffen, daß er nach einer solchen Auslegung vor Ihm gerecht bestehen werde?

 Jedoch, meine Brüder, wir wollen einmal nur bei der Nächstenliebe bleiben und wollen sie enger, als je ein Mensch im Ernste sie begränzte, auffaßen. Wir wollen nicht sagen: Nächste sind, die uns brauchen, − nein, wir wollen sagen: Nächste sind, die leiblicher Weise keine andern Verwandten haben, als uns, − ja, wir wollen es noch enger faßen: Nächste sind die leiblichen Brüder und Schwestern. Ich frage euch, wenn die allein Nächste wären, wenn die Nächstenliebe gar kein anderes Ziel hätte, als sie, hättet ihr dann Nächstenliebe geübt? Oder, noch weniger zu verlangen, so will ich nicht sagen und fragen: habt ihr gegen eure leiblichen Brüder und Schwestern Nächstenliebe geübt; sondern ich will fragen: seid ihr jetzt fähig, sie an ihnen zu üben, wie der Samariter sie am Juden übte? Ich setze den Fall, es wäre bei uns ein Wald, in dem Räuber hauseten, ihr kämet eilend des Wegs und fändet euern leiblichen Bruder, eure leibliche Schwester halbtodt liegen. Würdet ihr stehen bleiben, würdet ihr vom Pferde steigen, verbinden, aufs Pferd heben? Würdet ihr nicht für euer Leben mehr als für das des Bruders fürchten, würdet ihr nicht zu schwach sein, euch seinetwegen auf dem gefährlichen Wege aufzuhalten? Und wenn nun erst daheim Weib und Kind auf euch warteten, euertwegen in Sorgen wären, wenn ihr vielleicht mit dem Bruder nicht einig gelebt hättet, wenn er euch etwa, wie der Jude den Samariter, für einen Gott- und Heillosen erkannt und ausgegeben hätte? Wie dann? − Von Pflege im Hause, von unentgeldlichem, uneigennützigem Auswarten nichts zu sagen: was würdet ihr nur im Walde thun? − Die Hand aufs Herz! Vielleicht nicht dem Bruder, geschweige einem jeden, den ihr fändet, geschweige dem Juden − würdet ihr Liebe erweisen! − Ach, es klingt so schön: „Geh hin und thu desgleichen,“ − und es ist so schwer. Die Liebe ist klein, die Gebote üben auf uns keine Kraft, sie laßen uns kalt und todt, sie zeigen bei einer jeden Vergleichung nur unsre Schande, unsre Blöße, unsern Schmutz, unsre Sünde, unsre Schuld, unsre große Schuld. − Da ist nichts für uns, − auf dem Wege der Werke! Wir haben da nichts, als ein je länger, je schlimmer werdendes Gewißen zu erwarten! Wir werden nur immer angstvoller werden − und endlich wird der Richterspruch des ewigen, gerechten Richters uns tödten. − Drum kehren wir so gerne zum Anfang des Evangeliums, zu der Seligkeit zurück, von welcher der HErr spricht: „Selig sind die Augen, die da sehen, was ihr sehet. Denn ich sage euch: viele Propheten und Könige wollten sehen, was ihr sehet, und habens nicht gesehen, und hören, das ihr höret, und habens nicht gehört.“ − Der HErr sagt nicht: „Selig sind die Augen, die da sehen, was meine Zeitgenoßen unter dem jüdischen Volke sehen“; sondern Er sagt: „Selig sind die Augen, die da sehen, was ihr, Meine Jünger, sehet.“ Der Schriftgelehrte, der Ihn mit Augen sah, Caiphas, Pilatus, Herodes, die Ihn alle mit leiblichen Augen sahen, werden nicht mit selig gepriesen. Sie sahen zwar auch Ihn, aber sie glaubten nicht von Ihm, was die Jünger glaubten, sie sahen Ihn bloß natürlich an, nicht sahen sie in Ihm den, der ER war. − So hörten Ihn auch viele außer Seinen Jüngern, aber doch gilt es nur

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 085. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/424&oldid=- (Version vom 24.7.2016)