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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

von Jüngern: „Selig sind die Ohren, die hören, was ihr höret.“ Denn andere hörten es kritisch, zweifelnd, nicht als Gottes Wort an, ohne Glauben, ohne Hingabe an Ihn. Von denen gilt natürlich keine Seligpreisung; von denen steht geschrieben: „Sie haben Augen und sehen nicht.“ Die Propheten und Könige, ja, die hätten Ihn gesehen und gehört, wie Jünger: sie dürsteten längst nach Ihm, ER wäre ihrer Seelen Labung und Speise geworden, wenn sie Sein hätten inne werden können. Sie werden deshalb auch nicht verworfen, sie stehen am Todesabend JEsu von ihren Gräbern auf, sie schauen Ihn am Ostertage, sie begleiten Ihn an Himmelfahrt in die Heimat, − sie hatten bei des ersten Leibes Leben die Glaubenssehnsucht und das Glaubensverlangen und werden nun erhöht, erfüllt, gestillt am Tage der Erhöhung JEsu, da sie in auferstandenen Leibern Ihn heimgeleiteten zu Seiner Herrlichkeit! Sie sind drum auch selig zu preisen.

 Wie nun die Propheten Ihn nicht sahen, aber sehen wollten, so sehen und hören auch wir Ihn nicht, aber wir wollen Ihn sehen, uns verlangt nach Ihm. Aber wir haben einen Vorzug vor Propheten und Königen. Wir sehen Ihn zwar nicht, aber Seine Jünger und Sein Geist erzählen uns von Ihm, daß wir Ihn im Geiste schauen, wie ER den Jüngern erschien, ja, schöner, als sie Ihn drei Jahre lang sahen. Denn wir sehen Ihn immer vor den Augen unsrer Seele, wie sie Ihn nur am Tage Seiner Vollendung, am Tage der Himmelfahrt sahen. Wir kennen Ihn nicht nach dem Fleisch, wir sehen Ihn so wenig mit Fleischesaugen, als die Jünger nach Seiner Auffahrt; aber mit Glaubensaugen sehen wir Ihn, sehen Seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit, als des Eingeborenen vom Vater. Simeon sah ein Licht der Heiden und einen Preis des Volkes Israel − und hatte doch nur ein armes Windelkind auf seinen Händen. Wir sehen nur Buchstaben und Worte, die Ihn bedeuten, in der Schrift, − aber Er ist uns dennoch hell und klar, ein Licht der Heiden, ein Preis Seines Volkes Israel. − Wir hören Ihn nicht. Wir hören nicht den süßen, holdseligen Ton des Menschensohnes. Aber der wars auch nicht, welcher selig machte. Die Worte, die ER sprach, waren ihrem Inhalte nach Worte des ewigen Lebens, Geist und Leben. Und das sind sie auch jetzt noch. Es nehme sie in den Mund, wer sie wolle, − wer sie ungefälscht ausspricht, spricht Seine ewigen, durch Menschen unverderbbaren Worte, kräftige, allmächtige Worte, die sich an allen Herzen beurkunden, welche wie Propheten und Könige, wie Jünger und Jüngerinnen sie hören, vertrauend, hungrig, durstig nach dem lebendigen Gotte und Seinem Heile. Wir vernehmen Seine Worte also − und wer sie also hört, der spricht: „Viele Propheten und Könige wollten hören, was wir hören und habens nicht gehört. Selig sind die Ohren, die da hören, was wir hören, − selig die Augen, die da sehen, was wir sehen!“

 Warum selig, warum? Wer wie ein Jünger hört, der hört aus JEsu Munde nur Erbarmung, nur Gnade für reumüthige Sünder, nur holdselige Worte, voll Liebe Gottes zum verlorenen, menschlichen Geschlechte. Wer wie ein Jünger hört, der hört aber nicht allein den süßen, beifallswürdigen Inhalt, sondern er hört also, daß ers glauben kann, daß eine feste Zuversicht von der Gnade Gottes, eine heimatliche, kindliche Freude an Ihm und zu Ihm entsteht. Wer Seine Worte wie ein Jünger hört, der wird durchs Wort von Gottes Geist in seinem Geist versiegelt, daß er Gottes Kind sei − umsonst, durch Vergebung, durch pure Gnade! − Wer wie ein Jünger sieht, der sieht in JEsu nur die Ursache seiner Seligkeit, sein Opferlamm, das angenommen, seinen Priester, der unaufhörlich und erhörlich für ihn betet, seinen König, der mit mitleidiger Allwißenheit alle Dinge zu seinem Besten lenkt, − der sieht in Ihm einen Fels des Heils, einen Brunnen des Lebens, aus dem er Gnade um Gnade schöpft. Einem solchen wirds der Feinde wegen nicht mehr bang, er ist in Christo versöhnt. Der Tod verliert die Schreckenskraft, denn das Leben, das Er erworben, kommt durch den Gebrauch des Wortes immer näher und wirkt immer mehr Freudigkeit zum letzten Kampf. Ein solcher geht still und hoffend auf der schmalen Bahn dem ewigen Heile zu.


 Wie schön ist dieser Weg! Zwar ist er unmöglich für menschliche Kraft, aber der HErr leitet uns zu ihm und bewahrt uns auf ihm. Er befreit, die ihm nicht widerstreben, durch die Kraft des Wortes von eigener, falscher, trügerischer Werkgerechtigkeit

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 086. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/425&oldid=- (Version vom 24.7.2016)