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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Daß diese Rede von dem HErrn und Seiner gewaltigen That hinauskam in das ganze jüdische Land und in alle umliegende Länder erscholl, finde ich, eben von der Betrachtung kommend, so natürlich, daß ich zum Zwecke dieses Vortrags, zum Zwecke der Erbauung darüber nichts zu bemerken habe. Wenn es anders gekommen wäre, das wäre zu verwundern. Solche Thaten können nicht im Winkel bleiben.


 Bei alle dem, was ich bisher geredet habe, konnte ich meine Seele nicht hindern, beständig in der Stille eine doppelte Vergleichung anzustellen. Bei der Wittwe von Nain dachte ich an eine andere Wittwe, die auch einen einzigen Sohn sterben sah, am Kreuze sterben sah, an die Mutter Gottes. Ihr Schmerz am Kreuze, ihre Freude am Auferstehungstage des Sohnes, der in Nain ein Stiller der Schmerzen und ein Wiederbringer des Lebens gewesen, giengen mir beständig neben dem Schmerz und der Freude der Wittwe von Nain her. Und anderer Seits dachte ich immer an so manche Mutter auf Erden, an so manche jetzt lebende Wittwe, die ihren einigen Sohn zu Grabe tragen muß, ohne ihn wieder auferstehen zu sehen. Erlaubet mir, diese doppelte Vergleichung vor euren Ohren auszuführen.

 Die Wittwe von Nain sieht den von ihr gebornen einzigen Sohn vor ihren Augen sterben, wankt trostlos, hoffnungslos hinter seinem Sarge her, seinem Grabe zu. Welcher Schmerz! Aber sie hört auch das „Weine nicht“ des HErrn, das „Jüngling, Ich sage dir, stehe auf,“ sieht ihren Liebling wieder, führt ihn wieder heim unter ihr Dach und ist nun glücklicher, als sie gewesen wäre, wenn sie ihn nie verloren hätte. Welch eine Freude! Fast möchte man die Freude größer nennen, als den Schmerz. Doch gab es für diese Freude ein Gegengewicht. Ihr Sohn war nur zum natürlichen Leben auferstanden; er mußte noch einmal sterben; die Mutter konnte fürchten, ihn noch einmal sterben zu sehen; sie mußte aufs neue für sein Leben bangen.

 Vergleichen wir nun mit der Wittwe von Nain die Mutter unter dem Kreuze, so finden wir, daß beides, das Maß ihrer Schmerzen, wie das ihrer Freuden, bei weitem das der Wittwe von Nain aufwog. Was war der Jüngling von Nain gegen Marien Sohn? Wie war er empfangen und geboren? wie hatte er gelebt, wie mußte er leiden, wie sterben! War denn ein Leben, ein Sterben, wie das Leben und Sterben JEsu? Und war denn also einer Mutter Schmerz, wie der Schmerz derjenigen, die, glücklich durch den Sohn, wie keine, unglücklich werden mußte wie keine, als Er ihr genommen und so genommen ward? − Aber sie wurde auch getröstet, wie keine Mutter. Zwar geht ihre Tröstung nicht auf dem Wege zum Grabe vor, ihr Schmerz dauert länger, ihr Sohn wird begraben und sein Grab versiegelt, der Weg zum theuern Leichnam versperrt. Aber am dritten Tage wurde es anders. Zwar sah sie Ihn nicht auferstehen und wir lesen nichts darüber, wie ihr Schmerz in Freude verwandelt wurde. Ihr bei den ersten Nachrichten von der Auferstehung wieder erwachender Glaube, ihre zunehmende Freude, ihre Anbetung, ihre Wonne, als sie Ihn wieder sah, ihr Jubel von Ostern bis Himmelfahrt und Pfingsten: nichts ist aufgeschrieben; eine wunderbare Stille beobachtet darüber die heilige Schrift. Aber wer wollte deshalb leugnen, daß sie unaussprechliche Freude über die Auferstehung erfahren, daß sie Ihn im Leibe der Unsterblichkeit und Herrlichkeit gesehen? Wer wollte leugnen, daß ihre Freude über die Auferstehung ihres Sohnes um so viel größer, als die Wittwe von Nain gewesen, als JEsus über den Sohn der Wittwe und die Bedeutung Seiner Auferstehung über die der Auferstehung des armen Wittwensohnes erhaben war?

 Anders fällt die Vergleichung für uns, für trauernde Mütter unter uns aus. Wir haben weder einen so großen Schmerz, noch eine so große Freude zu erfahren, wie die heilige Gottesmutter. Diese Vergleichung ist leicht abgethan. Aber wir haben auch keinen so großen Schmerz, als die Wittwe von Nain, und doch eine nicht minder große Freude. Unser Schmerz ist nicht so groß, denn wir wißen ja mehr vom Glück des Todes, als jene Wittwe. Haben unsre Hingeschiedenen irgend an den HErrn geglaubt, so wißen wir, daß sie in einer unaussprechlichen Seligkeit sind; wir wißen das in Christo JEsu viel klarer und gewisser, als die alttestamentliche Wittwe. Darin werdet ihr mir beistimmen: aber vielleicht widersprechet ihr mir in meiner zweiten Behauptung, daß nemlich unsre Freude größer sei. Man könnte fragen: Begegnet uns etwa auch auf unsern Leichenzügen Christus?

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/441&oldid=- (Version vom 24.7.2016)