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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Böses. Der Pharisäer erlaubte sich gar nichts am Sabbathtage, − die Welt hingegen erlaubt sich am Sonntag alles, auch was sie selbst für unrecht und unzeitig hält. Sie macht aus dem Sabbathtag einen Tag des Fleisches, einen Trinktag, einen Spieltag, einen Tag des Streitens und Lärmens, einen Tag des Fluchens und Lästerns, − sie macht den Sabbathtag zu einem Sündentag, zu einem Tage des Fluches und Zornes Gottes. Wie fern ist sie denn also im Gastmahle des Pharisäers abgebildet? − Ich antworte: ihr habet ganz recht, daß die Welt so thut und daß das nicht pharisäisch ist. Aber die Pharisäer haben sich vielleicht bei ihren Gastmahlen auch dergleichen erlaubt, vielleicht war auch ihnen der Sabbathtag ein Tag des Fleisches − auch Pharisäer konnten fleischlich − und die fleischliche Welt kann pharisäisch sein. Sie erlaubt sich alles Fleischeswerk, aber sie übergeht keine Satzung. Ists nicht bei uns auch so? Frag die Dirne, ob sie am Sonntag spinne, so wird sie dir antworten: „So gottlos bin ich nicht, − ich nähe zwar, aber ich habe keinen Faden jemals gesponnen.“ Sinds nicht auch Satzungen, daß man nähen dürfe, aber nicht spinnen? Und gibts nicht dergleichen hundert Dinge? Die Kinder der Welt erlauben sich Fleischesfreuden, sie erlauben sich Trunk, Kartenspiel, Tanz, Geschrei, Geschwätz, Müßiggang und Hurerei ohne Gewißen und Bedenken, wenn sie nur in der Kirche ein oder zwei Male gewesen sind oder drin geschlafen und der Satzungen keine übertreten haben. Sie sind ganz Fleisch und ganz Pharisäer, aber Liebeswerke, Barmherzigkeit, wie sie Gott in Christus übte, üben sie nicht. Wenn man nur so viel Zeit auf Liebe und Barmherzigkeit wendete, als man auf Eitelkeit am Sonntage verwendet, es würde alles beßer stehen. Aber die Welt ist Welt und ist träg zum Guten, auch wenn sie im Christentume sich angesiedelt hat. Sie gleicht dem Gastmahl des Pharisäers. An ihren Sonntagen kann man alles, was sie ist und enthält, zusammenfaßen in die zwei Worte: „Gastmahl“ und „Pharisäer“. So ist die Welt − aber nicht die Kinder JEsu, das wird sich gleich greller zeigen, wenn wir

 2. den Eifer betrachten, welchen beide für ihre Schriftauslegung beweisen.

 Wenn wir zuerst den Eifer der Welt für ihre falsche Lehre erkennen wollen, so können wir ein kurzes Urtheil über denselben damit sprechen, daß wir sagen: „So falsch ihre Lehre ist, so falsch und groß ist ihr Eifer.“ Er ist eben so falsch; denn die Lehre ist der Same des Eifers und der Eifer die Frucht der Lehre, die Frucht aber ist dem Samen immer gleich. Der Eifer ist ferner so groß, als die Lehre falsch ist; denn bei der Verderbtheit des menschlichen Herzens läßt sich der Satz aufstellen: Je falscher die Lehre, desto größer der Eifer im Herzen desjenigen, der sie gefaßt hat. Man bezeichnet diesen großen Eifer der Welt für eine falsche Lehre mit dem Namen Fanatismus. Den nun sehen wir an den Pharisäern.

 Nehmen wir an, daß die Pharisäer des HErrn Lehre vom Sabbath zum voraus kannten; so war schon eine Wirkung ihrer falschen Lehre die Einladung JEsu zum Gastmahle. Die Freundlichkeit der Anhänger falscher Lehre ist deswegen nicht für baare Münze zu nehmen; sie gehört zum Eifer für das Böse, der sie beseelt, ist ein Heuchelschein, unter welchem sich dasselbe lauernde Auge zu verbergen pflegt, welches der HErr den Pharisäern zuspricht, wenn er gleich beim Beginne unsers Evangeliums durch Seinen Geist bezeugt: „sie hielten auf Ihn.“ Sie haben Ihm eine Grube gegraben und freundlichst mit Aehren und Trauben verdeckt, damit ER desto gewisser hineinfallen soll. Siehe da den großen und falschen Eifer der Welt für ihre falsche Lehre.

 Ferner haben sie dem HErrn eine Versuchung zum Guten bereitet, indem sie den Waßersüchtigen in den Weg stellten. Sie wußten, daß der HErr barmherzig sei und vor großer Liebe nicht gerne den Anblick des menschlichen Jammers ertrug, − wußten, daß Ihn der Anblick des Elends zur Hilfe reizte. Sie wußtens, darum brachten sie den Waßersüchtigen herzu und waren zum voraus in Hoffnung schadenfroh, wenn nun der HErr in der Versuchung fallen d. i. helfen und dadurch ihrer Meinung nach das dritte Gebot auf eine unverzeihliche Weise übertreten würde. Es war in ihren Augen eine Versuchung zum Bösen, ist ihnen auch so anzurechnen. Für den HErrn aber war es eine Versuchung zum Guten, in welcher Er fiel, d. i. bestand. Sieh, wie der falsche, große Eifer für falsche Lehre das Böse gut und das Gute bös macht! So lauert die Welt immer auf gute Werke der Kinder Gottes, welche dann flugs als Verbrechen gekleidet und vor aller Welt zum Beweis aufgeführt werden,

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 105. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/444&oldid=- (Version vom 24.7.2016)